Gratwanderung mit Absturzpotential

Stuttgarter Theaterpreis für ms-Tanzwerk mit „Mental Maps & Patterns“

Dresden, 10/01/2007

Qualität setzt sich auch im Zeitgenössischen Tanz immer wieder durch. Hofft man zumindest, und ist dankbar, wenn außergewöhnliche Choreografien nicht schon frühzeitig durch Ignoranz oder fehlende Risikoentscheidungen aus dem Rennen geworfen werden, sie die Chance erhalten, sich auch im überregionalen, internationalen Vergleich zu behaupten. Vor einigen Jahren hatten die Organisatoren in Leipzig gezögert, die ausgezeichnete Arbeit „Blind Date“ von Sophie Jaillet und Mario Heinemann ins Programm der Tanzplattform 2002 aufzunehmen, und das sollten sie nach wie vor bereuen. Dieses Stück war bereits zuvor in Dresden sehr erfolgreich gewesen, und es erhielt in den USA den Excellence Award for Choreography of New York Fringe Festival.

Nun hat die in Heidelberg ansässige deutsch-schweizerische Compagnie ms-Tanzwerk – ihre bislang drei Tanzstücke waren sämtlich bei Festivals in Dresden zu sehen – mit „Mental Maps & Patterns“ beim 18. Stuttgarter Theaterpreis den mit 6.000 Euro dotierten Haupreis für die beste Produktion erhalten. Mit einer bemerkenswerten Begründung in der Laudatio: „Dieses Stück hat sich als das umstrittenste, widerständigste des Festivals erwiesen. Unserer Einschätzung nach ist es die gedanklich kühnste und ästhetisch geschlossenste Arbeit der zurückliegenden Abende. Es nimmt in vielerlei Hinsicht die höchsten Risiken in Kauf und macht auf eine ganz unsentimentale Weise zutiefst betroffen.“

Das klingt doch gut, auch in Anbetracht der Tatsache, dass die Tanzplattform im Februar 2006 in Stuttgart – erklärtermaßen mit dem Anspruch, Deutschlands vielseitige Tanzszene überraschend zu präsentieren – insgesamt wenig Spannendes geboten hatte. Und neun Monate später der Stuttgarter Theaterpreis als bewusst risikofreudige Entscheidung an „Mental Maps“ und Mario und Sophie Heinemann geht: „Es ist eine konsequente, gedanklich komplexe Gratwanderung mit hohem Absturzpotential. Die innere Logik des Stückes ist folgerichtig, wenngleich nicht unbedingt sympathisch. Ein komplexes, intellektuelles Vorhaben ist in eine sinnliche Form überführt und dadurch erfahrbar geworden.“

Dazu das Zitat von C. G. Jung: "Das Bewusstsein benimmt sich wie ein Mensch, der ein verdächtiges Geräusch im Keller gehört hat und zum Dachboden eilt, um dort festzustellen, daß keine Diebe da sind. In Wirklichkeit hat sich dieser vorsichtige Mensch aber nicht in den Keller getraut." Wir wissen, wovon die Rede ist, haben das irritierend aufregende Stück bei der diesjährigen Tanzwoche erlebt. Und man könnte es nach zwei mäßig besuchten Aufführungen im Studiotheater vom Kulturpalast gut und gerne ein weiteres Mal dem Publikum vorstellen, zumal die Denkprozesse mit einer ersten Wahrnehmung längst nicht abgeschlossen sind.

Dass die Wurzeln speziell von Mario Heinemann, aber auch von Mitgliedern der Compagnie wie Ariane Funabashi, Berrit Jentzsch und Nina Patricia Hänel speziell nach Dresden führen, ahnt inzwischen wohl jeder, und es ist erwartungsgemäß die Palucca Schule, wo sie zu unterschiedlichen Zeiten als Tänzer ausgebildet wurden; Mario Heinemann absolvierte zudem die Choreografenausbildung an der „Ernst Busch“-Theaterhochschule Berlin. Er ist, sagte der langjährige frühere Rektor der Dresdner Tanzhochschule Enno Markwart über ihn, „ein feinnerviger Choreograf mit großem dynamischem Spektrum. Seine Arbeiten sind sozial determiniert und Kunst bindet sich für ihn an gesellschaftliche Verantwortlichkeit." Das hat sich auch nicht geändert, und derart sinnlich-intelligente Tanzproduktionen bleiben weiterhin rar in der heutigen Tanzszene.

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