Nijinksy im Wohnwagen gewinnt

Der Stuttgarter Theaterpreis 2010

Stuttgart, 13/12/2010

Gleich zweimal nimmt Fabian Chyle strahlend ein goldenes „Rössle“ (Wahrzeichen der Stadt Stuttgart) entgegen. Er ist der große Gewinner des Abends. Nicht nur, dass er den Stuttgarter Theaterpreis 2010 für die beste Produktion mit „Re-Inventing Nijinsky“ erhalten hat, auch der Publikumspreis geht an den Tänzer und Choreografen. Ein Preis, der ihn besonders glücklich macht, gelten seine Werke doch normalerweise eher als sperrig, wie er in seiner Dankesrede selbst zugibt. In seiner Produktion setzt er sich mit Genie und Wahnsinn des Tänzers Vaslav Nijinsky auseinander. Der hatte mit den Ballets Russes Weltruhm erlangt und später seinen Verstand verloren. Seine zunehmend wirren Gedanken, die er in einem Tagebuch festgehalten hat, bringt Fabian Chyle in gesprochenen Audiozitaten auf die Bühne. Von sexuellen Handlungen mit Frauen und Tieren ist da die Rede, von Darmproblemen und den vergangenen Tagen des Ruhmes als Tänzer.

Vermutlich will der Choreograf damit die Gedankenwelt Nijinskys darstellen, tatsächlich stellt er ihn damit nur bloß. Besser und tiefgründiger gelingt ihm die Darstellung des Kampfes mit den sich zunehmend verdunkelnden Gedanken im Tanz. Auf dem roten Teppich, den sich Nijinsky vor dem Wohnwagen selbst ausrollt, zitiert er die bekanntesten Posen des Tänzers, um sie gleich wieder zu demontieren und in sich zusammen fallen zu lassen. Am Ende landet er so immer wieder auf dem Boden und damit auf dem Teppich der Tatsachen. Aus den Lautsprecherboxen klingen dazu verzerrt die Klänge von Strawinskys „Le sacre du printemps“, dumpf und stetig anschwellend, bis sie zu einem kaum mehr erträglichen, ohrenbetäubenden Lärm geworden sind. So laut, dass man seine eigenen Gedanken nicht mehr versteht. Ein eindrucksvoller Einblick in das Hirn eines kranken Genies. Sperrig ja, publikumspreiswürdig trotzdem. Wobei Fabian Chyle als Stuttgarter sicher auch den Vorteil des Local Hero im Stuttgarter Theaterhaus genossen hat.

Nominiert waren insgesamt sieben Produktionen der freien Tanzszene aus ganz Baden-Württemberg, die ihre Werke an insgesamt vier Abenden gezeigt hatten. Da waren akrobatische Verspieltheiten von HeadFeedHands und eine tänzerische Auseinandersetzung mit dem Thema Ausbeutung und Burnout von urbanReflects aus Freiburg zu sehen. Aus Mannheim kam das Stück „My Road Movies“ von Iris Tenge, deren Tänzerin Katharina Wiedenhofer den Preis für die beste tänzerische Leistung bekam. Wie stark Tanz, Theater, oder - wie beispielsweise in der sehr gelungenen Produktion der Stuttgarterin Nina Kurzeja - Oper im zeitgenössischen Tanz miteinander verschmelzen, hat die Jury des Theaterpreises mit ihrer Entscheidung deutlich gemacht, nicht die beste Choreografie auszuzeichnen, sondern einen Preis für herausragende Regie zu vergeben.

Tatsächlich stehen sich in der ausgezeichneten Produktion „C- - - - - -H. Jandls Zunge“ von Katja Erdmann-Rajski ein Schauspieler und ein Tänzer, Sprache und Tanz ebenbürtig gegenüber und sind ohne einander gar nicht zu denken. Hört man die späten Gedichte des Österreichers Ernst Jandl, spürt man sofort deren starken Rhythmus, der wie gemacht für eine tänzerische Umsetzung erscheint. Während Boris Nahalka seinen Körper in Bewegung bringt, lässt Bernd Lindner die Wörter erklingen und kämpft den alternden Körper Jandls durch Papierberge. Tatsächlich gelingt den beiden damit, wie in der Begründung der Jury beschrieben, eine neue Wahrnehmung der Lyrik durch das Medium Tanz. Abgerundet wurde die Preisverleihung vom Gastspiel der Berliner cie. toula limnaios, die wie schwarze Gewitterwolken mit ihren Lederjacken und roten Unterhosen schön-schreckliche Bilder auf die Bühne malten und Lust auf mehr machen. Preise für die freie Tanzszene gibt es allerdings vorerst keine mehr. Im nächsten Jahr geht der Stuttgarter Theaterpreis erstmal wieder an das Schauspiel. 

www.fabianchyle.de / www.erdmann-rajski.de / www.headfeedhands.de / www.iristenge.de / www.ninakurzeja.de/ www.company-urbanreflects.de / www.toula.de / www.theaterhaus.com

 

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