Tanz als Barometer für die Toleranz der Gesellschaft

Der Choreograf Bernard Montet über seine Uraufführung „Apertae“ bei DANCE

München, 05/11/2008

Seinen Platz in der Gesellschaft finden, sich integrieren – und trotzdem seine Identität bewahren. Ein gerade heute hochgradig geladenes Spannungsverhältnis: die weltweite Suche nach Arbeit und nicht zuletzt die Nachwehen der einstigen Kolonialherrschaften haben eine globalisierte Migrations-Gesellschaft hervorgebracht. Ein Thema, das Bernardo Montet – geboren 1957 in Marseille, die Mutter Vietnamesin, der Vater aus Französisch-Guayana – interessieren musste. Montet, seit 2003 Leiter des Centre Chorégraphique in Tours, bringt heute bei Münchens Dance sein „Apertae“ zur Uraufführung: sechs von seinen Tänzern mitgeschriebene „Lebensgeschichten“.

Redaktion: Herr Montet, und Ihre Lebensgeschichte?

Bernardo Montet: Aufgewachsen bin ich im Senegal und in einem Oasendorf im Tschad. Mein Vater, Parasitologe, und meine Mutter, Kinderkrankenschwester, haben im Auftrag der französischen Armee im Tschad Kranke behandelt, speziell die Verletzten der Auseinandersetzungen mit den Rebellen des Nordens. Diese Zeit hat mich sehr geprägt, die Wüste, die Weite des Raumes, die Stille. Mit 17 erst sind wir zurück, nach Bordeaux, wo ich eine Physiotherapeuten-Ausbildung begann. In einem Psychomotorik-Seminar war es Pflicht, einmal die Woche ein Tanz-Training zu machen ... Ich war schon 19, trotzdem habe ich dann Béjarts Mudra-Schule in Brüssel absolviert.

Redaktion: Sie haben anschließend mit Catherine Diverrès gearbeitet, dann mit François Verret, also mit Choreografen, die in den 80er Jahren die Nouvelle Danse Française mitgeprägt haben. Wo ist man heute angekommen?

Bernardo Montet: In allen Künsten, nicht nur im Tanz, ist eine Erschöpfung zu erkennen. Es gibt ja diese Entwicklung: „Nicht-Tanz“ beziehungsweise „Konzept-Tanz“. Und ich finde, dass Leute wie François Verret – besonders ihm verdanke ich sehr viel – oder Mark Tompkins aktueller sind als je. Denn diese erste Generation der Nouvelle Danse Française hat aus einem politischen Bewusstsein heraus kreiert, um dem freien Tanz die Anerkennung als „Kunst“ zu erkämpfen. Man musste sich damals ja erst mal gegen die besonders bei uns hochkultivierte „danse d'école“, gegen das Ballett, durchsetzen. Ich erinnere mich noch, wie Verret total von der Presse verrissen wurde ... Tanz war in dieser Aufbruchszeit eine Passion – heute ist es ein Beruf.

Redaktion: Damals brach ein Choreograf wie Dominique Bagouet die (neo-)klassische Sprache auf. Er und andere arbeiteten sich dann hin zu einer absoluten Freiheit in der Formgebung ...

Bernardo Montet: Heute geht es um die Radikalität der Form, um die provozierende Präsentation: Nacktheit in Verbindung mit religiösen Texten zum Beispiel. Der zeitgenössische Tanz ist zum Barometer für die Toleranz der Gesellschaft geworden.

Redaktion: Sie leben bereits fünf Jahre in Tours. Frankreich war ja durch seine spät aufgegebenen Kolonien schon viel früher mit dem Integrationsproblem konfrontiert als Deutschland. Waren für ihr Stück die Zuwanderer aus Nordafrika, das Zusammenleben verschiedener Ethnien in Tours ein Ausgangspunkt?

Bernardo Montet: Tours ist ein ruhiges Provinzstädtchen, nicht vergleichbar mit den brodelnden Vorstädten von Paris. Nein, ich sehe das Zusammenrücken der Welt und wie wir durch globale Probleme, ob Umweltverschmutzung, Klimaveränderungen oder Wirtschaftskrisen, voneinander abhängig sind. Wo findet da der Einzelne noch seinen Platz? Meine Tänzer kommen aus Frankreich, Marokko, der Elfenbeinküste, aus Israel. Wir diskutieren viel über das, was in der Welt vor sich geht, über Krisen und Katastrophen wie den 11. September. Da stehen dann die Meinungen eines Israeli und eines Muslims gegeneinander ... Letztlich geht es darum, über die religiöse Zugehörigkeit hinweg zu einer Spiritualität zu gelangen.

Redaktion: Zu Ihrem „Apertae“, das auf eine Bewusstseins-„Öffnung“ zielt.

Bernardo Montet: Mein Konzept war, dass jeder der Tänzer etwas sehr Persönliches beitragen sollte, das aber auch den Zuschauer ansprechen würde. In jedem einzelnen Menschen steckt ja ein Stück der ganzen Menschheit.

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