Eine deutsche Ballettkomödie

Christian Spucks „Leonce und Lena“ als Abschiedspremiere der Essener Ballettära Martin Puttke

oe
Essen, 02/05/2008

Kann man das – ja, darf man das? Einen deutschen Klassiker verballettisieren, ein Lustspiel zumal, wo wir doch so wenige davon haben: Lessing, Kleist, Grabbe – hier stock‘ ich schon, denn Büchners „Leonce und Lena“, ausdrücklich als Lustspiel bezeichnet, fällt mir da erst hinterher ein. Eher würde ich es als eine melancholische Komödie klassifizieren – in der Oper wäre es ein Dramma giocoso. Ausgerechnet darauf hat sich Christian Spuck kapriziert. Wagt es wahrhaftig, es als Ballett nach dem gleichnamigen Lustspiel von Georg Büchner zu annoncieren. Und ist damit prompt bei den literarischen Nachlassverwaltern Büchners in Ungnade gefallen.

Die vermissen den sozio-philosophischen Hintergrund – wie schon bei der von E.T.A. Hoffmann inspirierten „Coppélia“ und dem „Nussknacker“. Und verkennen dabei, dass Spuck hier etwas gelungen ist, was es bisher nicht gegeben hat: nämlich eine deutsche Ballettkomödie, die sich einreiht in die große Tradition der „Fille mal gardée“ und der Massineschen „Gaité parisienne“. Mit Anleihen aus Jooss‘ „Grünem Tisch“ (das Anfangs- und das Schlusstableau – und das in Essen!), aus de Valois‘ „Rake‘s Progress“ und Crankos „Widerspenstiger“ – und alle Winogradows und Ratmanskys in den Schatten stellt. Das Ganze mutet wie ein als Abendfüller dimensionierter Olympia-Akt aus „Hoffmanns Erzählungen“ an. Und mündet in ein so rasantes Finale, dass man es sich gut als Apotheose des Neujahrskonzerts der Wiener Philharmoniker vorstellen könnte.

Dabei kann ich mich am wenigsten mit dem musikalischen Potpourri-Arrangement befreunden, obgleich ich zugeben muss, dass es – bis auf die irritierenden Pop-Einlagen – dramaturgisch überaus stimmig ist, so, dass ich kaum stillsitzen konnte, weil mir all die Sträuße etcetera derart in die Glieder fuhren, dass mich mein Nachbar mehrfach mahnte: Please come down, Sir! Insgesamt würde ich die musikalische Bearbeitung ganz entschieden über die Arrangements stellen, die Manuel Rosenthal beziehungsweise Mackerras/Lanchbery für Massine/Béjart und für Cranko/Ashton getroffen haben. Und wie hat Spuck diesen musikalischen Funkenflug zu nutzen verstanden!

Dieses „Leonce und Lena“ ist Tanz, Tanz und nochmals Tanz! Stilistisch pointiert ironisch-karikaturistisch-puppenhaft-automatisch – und sehr gelegentlich auch lyrisch-klassisch. Immer aber exakt auf die Musik eingehend. Und so lustig, dass man aus dem Schmunzeln gar nicht herauskommt. Spuck kann sogar die Langeweile und den Lebensüberdruss, den Ennui der Romantiker, spannend choreografieren. Eine Ballettkomödie von diesem Format hat es bisher auf dem deutschen Theater noch nicht gegeben – jedenfalls ist mir keine bekannt – nicht von Cranko, nicht von Neumeier und nicht von Spoerli. Das erscheint mir als ein Ballettäquivalent zu den Musical-Adaptionen à la Shakespeare und Kumpane. Sehen die Kollegen denn nicht, dass wir in Spuck einen Choreografen von Nestroy-Format haben?

Also bitte demnächst von Spuck ein Spitzweg- und ein Heine-Ballett! In Essen krönt es als letzte von zahlreichen Uraufführungen die zu Ende gehende Ära von Martin Puttke. Es ist nicht zuletzt als Ensembleleistung ein glänzender Beweis für die konsequente und zielstrebige Arbeit Puttkes und seiner Mitarbeiter. Die Ensembles wirken wie aus einem Guss – und dass bei den zahlreichen Fermaten und Ausrufezeichen-Schlüssen mit den langen Momenten des Einfrierens jeglicher Bewegung. Kein Wunder, dass sich die Tänzer die auf jeden Typ so ganz und gar individuell zugeschnittenen Rollen zu eigen gemacht haben. Tomás Ottych als der an der Welt, den Verhältnissen und nicht zuletzt an sich selbst leidende Prinz Leonce wie ein deutscher romantischer Jüngling aus dem Geschlecht der Novalis und des Schumannschen Eusebius, Ludmila Nikitenko als schon leicht emanzipistisch programmierte Prinzessin Lena, der Truffaldinohafte Valerio von Denis Utila und die kesse Yulia Tsoi als Pimpinellahafte Rosetta. Ist schon toll, was für ein Kabinett an Panoptikumsfiguren Spuck hier versammelt hat (darin unterstützt von den leicht angeschrägten Kostümentwürfen seiner drehbühnenfreudigen Ausstatterin Emma Ryott).

Wenn es mit rechten Dingen zuginge, würde diese „Leonce und Lena“-Produktion bei uns Furore machen wie die „Coppélia“ in Frankreich, der „Nußknacker“ in Russland und die „Fille mal gardée“ in England. Aber wir sind ja in Deutschland, und da haben fünf Tage nach der Essener Uraufführung nicht einmal die FAZ, die Welt und die Süddeutsche über diese Ballettsensation berichtet!

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