Ein Triumph der Jugend
John Neumeier eröffnet die 48. Hamburger Ballett-Tage mit „Romeo und Julia“
Nichts läge ferner als Mitleid zu empfinden: Wer zur Nijinsky-Gala geht, weiß, worauf er sich einlässt, nämlich auf ein etwa fünfstündiges, bunt gemischtes, teils spektakuläres, teils hoch anspruchsvolles Programm mit Tänzer/innen des Hamburger Ensembles, illustren Gästen und Ballettintendant John Neumeier als Hauptchoreograf und Moderator. Der enthusiastische Schlussapplaus der nimmermüden Zuschauer gegen 23.30 Uhr bestätigt, dass Neumeier auch bei der 34. Auflage der Gala auf die Begeisterung eines Publikums zählen kann, deren Gunst er sich in seit 1973 mit hoch qualifizierten Produktionen in Hamburg hart erarbeitet hat. Selbst Stoffe wie „Die Stühle“ (nach Eugène Ionesco) bringt er in der Gala unter, tritt selber als Mittsechziger in dem Stück auf, das Maurice Béjart für ihn und Marcia Haydee (als die zwei Alten) kreiert hat. Béjarts melodramatischer Mix aus Tanzfragmenten, Musiken aus Wagners „Tristan und Isolde“, Texten und Stühlerücken passt Senior Neumeier heute wie ein Handschuh. Sein intensives, rückhaltloses Spiel ohne jede Peinlichkeit unterstreicht die absurde Note beim Warten auf imaginäre Gäste, nicht auf Godot. Joëlle Boulogne ist ihm eigentlich eine zu junge Partnerin, wodurch jedoch das Groteske noch weiter akzentuiert wird. Als beide in die Bühnentiefe schlurfen, Stühle herabsinken, Dunkelheit sie langsam einhüllt, bricht tosender Beifall aus. Der Hexenmeister hat wieder einmal alle eingefangen.
Zu Béjarts Ehren schuf Neumeier 1996 sein „Opus 100 – for Maurice“ für zwei Männer. Die homoerotische Note ist unverkennbar, wichtig ist jedoch nur die Verbindung zweier Menschen, egal welchen Geschlechts. Ivan Urban und Alexandre Riabko gelingt die Präsentation unbefangener Körperlichkeit in der Wesensverwandtschaft.
Auch John Cranko wird mit einer Hommage geehrt. Im Abschieds-Pas-de-deux aus „Onegin“ liefern sich Barbora Kohoutková und Jiří Jelinek (aus Stuttgart) einen Zweikampf, der von seiner Seite her fast einer Vergewaltigung gleich kommt. Die angenehm herbe Kohoutková – sie verlässt nach drei Jahren die Kompanie, wohin ist noch nicht bekannt – beginnt sehr verhalten, steigert sich neben dem etwas hibbelig wirkenden Jelinek zu tragischer Größe. Dann demonstriert Lucia Lacarra (Bayrisches Staatsballett) die hohe Kunst der perfekten Linie, auch wenn es in die Lüfte geht. In Crankos „Legende“ (Musik: Wieniawski) hebt Marlon Dino (München) sie fast ohne Unterlass, vornehmlich einarmig. Cranko liefert augenzwinkernd eine Art Über-Bolschoi-Pas-de-deux, schlanker, flüssiger als das Vorbild. Dem blieb das Persönchen Lacarra auch in Soloeinschüben nichts schuldig, während ihr Partner arge Probleme hatte.
Weit zurück in die Mottenkiste der Ballettgeschichte, wohin es zu Recht verbannt ist, greift „Die Flamme von Paris“, 1932 von Wassili Wainonen für das Leningrader Kirow-Ensemble choreografiert. Daraus holen Olga Sizych und Sergej Kusmin, Solisten des Moskauer Stanislawsky-Balletts, einen Pas de deux hervor, der alle Klischees über den Missbrauch des klassischen Stils für sozialistische Propaganda bestätigt. Zumal das Paar die virtuosen Kunststückchen wie Zirkusattraktionen präsentiert, nicht in der Lage ist, sie zu Tanz zu verbinden. Während sie kalt sauber arbeitet, hat er seine liebe Mühe mit der Platzierung, von den Übergängen ganz zu schweigen. Klar ist, die französische Revolution, auf die sich das verstaubte Relikt bezieht, wäre nicht gelungen, hätte sie sich auf diesem Niveau bewegt. Riesenbeifall.
Unter den „fremden“ Choreografen tummelt sich Christopher Wheeldon, von dem der Pas de deux zu Prokofjews Violinkonzert, 2.Satz, stammt. Hélène Bouchet besticht durch wunderbare Phrasierung, nicht minder ihr Partner Thiago Bordin: ein schönes Paar. Originell die Phase, in der sie aus der Seconde-Spreizung in ein Gehen in der Luft wechselt, kopfüber gehalten von Bordin. Mein Eindruck: flüssig mit der linken Hand choreografierte Routine. Verstiegen dagegen „Diskant Cries“, eine Zweiersache von Edward Liang (Musik: Albinoni) für das San Francisco Ballett, von dort kommen Yuan Yuan Tan und ihr Partner Damian Smith. Sie startet ohne Musik mehrmals mit einer seitlich ausholenden Armbewegung, die sie bis zu einer Ohrfeige an sich selbst führt, das wiederholt sich am Ende. Dazwischen taucht Smith aus dem dunklen Hintergrund hervor und steht ihr zuverlässig zur Seite. Wie mit Samtpfoten huscht sie über die Fläche, landet lautlos nach Sprüngen, klappert nie beim schnellen Schreiten, serviert himmelhoch gestreckte Beine (à la seconde), biegt wie selbstverständlich die Arabesque penchée über 180 Grad. Von „Cries“ keine Spur.
Ein ganz anderes Kaliber ist natürlich George Balanchine, vertreten mit „Diamanten“ (aus „Jewels“), deren Hamburger Stilreinheit beglaubigt wird durch den „The George Balanchine Trust“. Ob später einmal auch ein Neumeier-Trust über die Wahrung seines Stils und seiner Technik akribisch wachen wird? Hier behauptet sich das Ensemble in den verwirrenden Kombinationen, bei denen das Auge manches Mal kaum die Struktur erkennen kann, in denen jeden Augenblick der Zusammenstoss einer oder mehrerer Personen unvermeidbar zu sein scheint. Davor brilliert Agnès Letestu (Ballet National de l’Opéra Paris) seelenruhig mit glitzernder Technik, zu ihr gesellt sich Carsten Jung, der für den verletzten José Martinez (Paris) eingesprungen ist. Obwohl nicht der Typ des Danseur Noble, behauptet er sich respektabel. Er ist quasi der Schwerarbeiter des Abends, denn außerdem partnert er die faszinierend fließende Silvia Azzoni (kleine Meerjungfrau) und die mit einer sehr individuellen Intensität aufwartenden Laura Cazzaniga (Mahlers 4.Sinfonie, 3.Satz), die nach 20 Jahren ihren beifallumtosten Abschied von der Tänzerinnenlaufbahn nimmt, aber als Ballettmeisterin den Hamburgern erhalten bleibt.
Anrührend und völlig uneitel – keine hohen Beine oder Supertouren – verkörpern in Neumeiers „Sylvia“ Laëtitia Pujol und Manuel Legris (beide Pariser Oper) Sylvia und Aminta in ihrem innigen Abschieds-Pas-de-deux, in dem offen bleibt, ob es tatsächlich ein endgültiger Abschied ist. Lloyd Riggins ist einmal mehr Aschenbach in „Tod in Venedig“, Marijn Rademaker (Stuttgart) seine blonde Muse. Wo nicht die Tonaufzeichnung regiert, das Orchester also zum Einsatz kommt, etwa bei Lea Auerfelds Komposition zu „Kleine Meerjungfrau“, Wieniawskis Violinkonzert (das Solo spielt wohl der Konzertmeister Thomas C. Wolf) oder Delibes „Sylvia“, waltet Klaus-Peter Seibel seines Dirigentenamtes und führt die Philharmoniker Hamburg zu sicherem Musizieren. In den „Nocturnes“ interpretiert Michal Bialk sehr subtil Chopins Werke, immer mit einem Blick auf die Tänzer. Ebenso aufmerksam agiert Elizabeth Cooper, die am Piano Wagners Klänge zu Tod in Venedig klangmächtig aufblühen lässt.
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