Eine Reise in die innere Welt des Tanzes

Die 38. Nijinsky-Gala zum Abschluss der Hamburger Ballett-Tage

Hamburg, 02/07/2012

Alljährlich ist sie der Höhepunkt der Ballett-Spielzeit und auch der Ballett-Tage zum Ausklang der Saison: die Nijinsky-Gala. Dieses Jahr stand sie unter dem Motto „Geheime Dialoge – Tanz, Musik, Emotion“. Jedes Jahr wolle er dabei einen Aspekt der vielschichtigen Persönlichkeit Vaslaw Nijinskys zeigen, sagte John Neumeier zu Beginn, eine Facette seiner Arbeit, seiner Philosophie. 2012 geriet dieser Augenblick auf den größten Tänzer und Choreografen des 20. Jahrhunderts zu einem intimen Blick in das ureigenste Wesen des Tanzes schlechthin.

Und wahrscheinlich lag es daran, dass das gesamte Opernhaus zum Abschluss weniger „high“ war als sonst üblicherweise bei diesem Gala-Anlass. Es schien, als seien alle nach diesem fünfstündigen Abend auf seltsame Weise ergriffen, nachdenklich, in sich gekehrt, andächtig, und ein wenig melancholisch auch. John Neumeier war an diesem Abend eine Dramaturgie gelungen, die der Nijinsky-Gala über den gesamten Abend hinweg eine in der 38-jährigen Geschichte bislang einzigartige Tiefe verlieh. Neumeier verzichtete konsequent auf jedes Gala-Chichi in Form von spektakulären zirzensischen Grand pas de Deux mit technischen Finessen, Sprüngen und Fouettés. Gerade das machte die Gala noch intensiver, gerade deshalb war sie so besonders.

Es begann recht leichtfüßig mit einem Dialog der Jugend – Neumeiers „Spring and Fall“ zu Musik von Antonin Dvořák, in dem sich der junge Christopher Evans ein weiteres Mal als die ganz große Nachwuchs-Hoffnung zeigte. In der nächsten Spielzeit wird er als Gruppentänzer in die Kompanie übernommen, und es sei jetzt schon prophezeit, dass man von diesem Ausnahmetänzer noch viel sehen, hören und lesen wird. Auch danach ein Pas de Deux der Jugend, die Begegnung zwischen dem Möchtegern-Choreografen Kostja und dem Mädchen Nina aus Neumeiers „Die Möwe“. Anna Laudere zeigte hier eine Frische und Anmut, eine gelöste Offenheit und Heiterkeit, die man so an ihr noch nie sah. Es schien, als sei da ein Knoten in ihr geplatzt, als sei die Wand, die sie so oft zwischen sich und dem Publikum aufbaute, eingerissen. Sie, die so oft unnahbar scheint, kühl und distanziert, war auf einmal ein zartes, verletzliches, aber auch frisches und unbekümmertes Mädchen. Großartig! Edvin Revazov (ihr Partner im Leben und auf der Bühne) gab sein Rollendebut als frühreifer, nachdenklicher Kostja – zusammen waren beide unwiderstehlich!

Zum Dialog auf mehreren Ebenen geriet danach die Ballszene aus Neumeiers „A Cinderella Story“ mit der überaus präsenten Patricia Tichy als Stiefmutter-Keifnudel, einer großartigen Lucia Solari als zickiger Tochter und der wie immer zuverlässigen Leslie Heylmann (die an diesem Abend zur Ersten Solistin befördert wurde) als deren Schwester. Vor allem aber mit der anmutigen und jugendfrischen Hélène Bouchet als Cinderella und Thiago Bordin als ebenso edlem wie elegischen Prinzen. Das war poetisch und nachdenklich zugleich – ein Dialog der jugendfrischen, reinen, und auch ein wenig naiven Liebe.

Gefolgt von einem eher in sich gekehrten, stummen und doch höchst beredten Dialog einer unerfüllten Liebe in China „A Sigh of Love“, basierend auf einem Roman aus den 1930er Jahren und vom Choreografen Bertrand d’At eben in diese Zeit gelegt. Ji Pingping (sie heißt wirklich so!) und Wu Husheng vom Shanghai Ballet zeigen hier eine für Asiaten seltene innere Intimität, ein Zueinander-Hingezogensein zweier mit anderen Partnern verheirateter Menschen, das von vornherein zum Scheitern verurteilt ist, ein Suchen, ein Sich-Herantasten, und ein Nicht- oder Nicht-ganz-Finden.

Als Kontrast dazu dann der Dialog zwischen Ballerina und Ballettmeister aus Neumeiers „Nussknacker“, mit Uljana Lopatkina vom Mariinsky Ballet St. Petersburg als Louise und Ivan Urban als Drosselmeier. Schon 1990 hatte Neumeier Lopatkina – damals noch Schülerin – für diese Rolle besetzt, 22 Jahre später zelebriert die mittlerweile zur Primaballerina assoluta avancierte Lopatkina diesen Part mit größter Noblesse, und doch, so scheint es, mit einen Hauch zu viel „Schwanensee“-Allüre, vor allem in den Armen. Mag sein, dass das eine Referenz an Anna Pawlowa und ihren Lehrer Enrico Cecchetti war, deren Fotos Neumeier zu diesem Pas de Deux inspiriert hatten und der in St. Petersburg deshalb auch „Pawlowa und Cecchetti“ heißt (Neumeier hat diese Sequenz dem Mariinsky-Theater geschenkt). Maria Kochetkova und Joan Boada vom San Francisco Ballet zeigten anschließend einen Pas de Deux aus „Ghosts“ von Christopher Wheeldon – fließend umeinander gewunden, ineinander verwoben und verschraubt. Das war fein anzuschauen, aber doch – verglichen mit dem Vorhergehenden – eher leichte Kost.

Ein höchst vielschichtiger, komplexer Dialog dagegen dann die Hochzeitsszene aus Neumeiers „Ein Sommernachtstraum“. Und einmal mehr wurde hier offenkundig, warum dieses Stück der Dauerbrenner und die Visitenkarte schlechthin des Hamburg Ballett geworden ist: eine unnachahmliche Kombination aus vollendeter klassischer Tanzkunst (die Hochzeits-Pas de Deux der drei Paare) und höchst amüsanter Komödie, wenn die sechs Handwerker zu Leierkastenmusik ihre Löwenjagd mit Hindernissen aufführen. Wie Konstantin Tslikov hier auf knallroten Spitzenschuhen das Hausmütterchen gibt, das sich durchaus nicht alles gefallen lässt, wie Lloyd Riggins als Zettel die Fäden zieht, wie Aleix Martinez den Löwen mimt – das ist umwerfend komisch und großartig getanzt. Und wenn dann Alina Cojocaru und Alexandre Riabko, Mariana Zanotto und Carsten Jung, Yuka Oishi und Silvano Ballone (der am selben Abend zum Solisten avancierte) die Hochkultur des klassischen Tanzes zelebrieren – dann ist das schon ein Dialog auf Meta-Ebene.

Teil II des Abend gehörte dann ganz einer deutschen Erstaufführung: „Chopin Dialogue“, ein „Gespräch“ auf zwei Ebenen: Zum einen setzt sich der spanische Komponist Federico Mompou mit dem französischen Komponisten Frédéric Chopin auseinander, zum anderen zeigen Diana Vishneva vom Mariinsky Ballet St. Petersburg und Thiago Bordin vom Hamburg Ballett mit größter Intensität alle Gefühlsfacetten, die das Leben für Mann und Frau bereitzuhalten beliebt – einen Lebensdialog, am Flügel sehr einfühlsam begleitet von Alexsey Goribol. Diana Vishneva hatte sich diese Kreation für einen ihr gewidmeten Ballettabend von Neumeier gewünscht – und einmal mehr wird hier augenfällig, wie vielschichtig-dialogisch der Hamburger Ballettintendant zu choreografieren vermag, und einmal mehr zeigt er sich als Meister der Bewegungs-Zwischentöne. Wenn man zurückdenkt an die großen Pas de Deux aus „Kameliendame“ und anderen großen Handlungsballetten, dann wird gerade an dieser, auf das Wesentliche komprimierten Bewegungssprache deutlich, wie reich, wie differenziert und vor allem wie innig Neumeier es immer noch versteht, einen solchen tänzerischen Dialog zu entwickeln und auszugestalten. Dieses Stück wünscht man sich häufiger zu sehen auf dem Hamburger Spielplan. Nicht weniger intensiv dann Teil III des Abends: den Anfang machte die Schlussszene aus Neumeiers „Tod in Venedig“, mit einem nach wie vor grandiosen Lloyd Riggins als Gustav von Aschenbach und einem nicht minder großartigen Edvin Revazov als Tadzio. Seit der Uraufführung 2003 (in eben dieser Besetzung) ist Revazov tänzerisch wie darstellerisch enorm gereift, hat sich aber doch auch eine Art von Naivität bewahrt, die gerade zu dieser Rolle gehört. Die Krönung dieses sehr speziellen Dialogs zwischen einem alten Mann, der seinem Begehren nachgibt, und einem Jüngling, der nicht so recht weiß, wie ihm geschieht, war jedoch, dass eben dieser Pas de Deux nicht wie sonst zu Klaviermusik getanzt wurde, sondern dass die Hamburger Philharmoniker unter Leitung von Simon Hewett Isoldes Liebestod aus dem Orchestergraben spielten (und das dankenswerterweise mit einer wunderbar beseelten Inbrunst). Das verlieh dem ganzen eine einzigartige Tiefe – und man wünscht sich, Neumeier möge die Orchesterfassung doch bitte auch in die normalen Vorstellungen übernehmen.

Und mindestens so tiefgründig ging es weiter: mit einem Stück, das selten in Hamburg (oder sogar noch nie?) zu sehen ist: dem „Carmen“-Pas de Deux zu Musik von Rodion Schtschedrin auf die Carmen-Suite von Georges Bizet. Neumeier hatte ihn für die damals 24-jährige Anna Polikarpova für ihre Teilnahme am 1. Internationalen Ballettwettbewerb „Maya“ 1994 choreografiert. Die reife Anna Polikapova tanzt diesen Dialog mit dem Tod (in Person des dämonischen Ivan Urban) mit atemberaubender Präsenz und mit einer einzigartigen Hingabe. Sie zappelt, sie kämpft, sie wütet, sie bettelt, sie fleht – um sich dann loszureißen und sich stolz und selbstbestimmt dem Tod im Kuss auszuliefern. Das ist ganz große Tanzkunst, die mitten ins Herz zielt – und trifft.

Gnädigerweise gab es danach etwas zum Ausruhen fürs Auge: einen leichtfüßigen Dialog von Helgi Tomasson für zwei Tänzer zu einer Chaconne von Händel (exzellent gespielt von dem Pianisten Roy Bogas) – ebenso nett wie präzise präsentiert von Vanessa Zahorian und Davit Karapetyan vom San Francisco Ballet. Der aufregendste Dialog für einen Choreografen sei jedoch der mit Musik, die es noch nicht gibt, leitete Neumeier den Übergang zum Liebes-Pas de Deux zwischen Julie und Liliom aus dem gleichnamigen Ballett ein, das 2011 in Kooperation mit dem Komponisten Michel Legrand entstand. Sowohl Alina Cojocaru als Julie wie auch Carsten Jung als Liliom und Michel Legrand für die Musik wurden dafür mit dem „Benois de la Danse“ ausgezeichnet – völlig zu Recht, wie auch dieser Abend wieder bewies.

Den absoluten Kontrast dazu boten Uljana Lopatkina und Danila Korsuntsev anschließend mit dem „Diamonds“-Pas de Deux aus „Jewels“ von George Balanchine. Wie eine Hohepriesterin des klassischen Tanzes zelebrierte Lopatkina hier die schwierigen Passagen – gebieterisch, majestätisch, über jeden Zweifel erhaben. Das funkelte aber eben auch genauso kühl und distanziert wie Diamanten das oft tun. Es war kein Feuer, das das Herze wärmt, sondern eher eine Glut, die einschüchtert. Weniger dialogisch war dann der Rausschmiss mit „I got Rhythm“ aus Neumeiers „Shall we dance“ aus 1986 (seinerzeit erstmals in der Kampnagel-Fabrik aufgeführt), in dem das gesamte Ensemble in Frack und Zylinder über die Bühne fegte, angeführt von der wunderbaren Silvia Azzoni und dem nicht minder wunderbaren Alexandre Riabko.

Alles in allem war dem Hamburg Ballett hier ein Abend gelungen, der keine Wünsche offen ließ. Ein Dialog der Tänzer mit dem Publikum, der zeigte, wie wunderbar eine solche Kommunikation sein kann, wenn man sie mit Herz und Seele führt, mit allem, was das Menschsein ausmacht. Wenn sich über Bewegung eine Botschaft vermittelt, die im Innersten berührt und die nur empfunden, kaum in Worten beschrieben werden kann. Dieser Dialog wird in allen, die ihn erleben durften, noch lange nachklingen. Wie auch diese Ballett-Tage insgesamt, die zwei Wochen lang Abend für Abend Tanzkunst auf höchstem künstlerischem Niveau geboten hatten.

 

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