Zwischen Expressivität und der Sehnsucht nach Europa

An zwei Abenden zeigen die Jüdischen Kulturtage Tanz aus Israel

Berlin, 17/09/2008

Jeder, der schon einmal zur Rush-Hour in einem vollbesetzten Bus durch Tel Aviv oder Jerusalem unterwegs war, kennt das explosive Gemisch von Extrovertiertheit, klaustrophobischer Nähe, latenter Paranoia und der handfesten Überzeugung, dass Konflikte am besten sofort ausgetragen werden. Israelischer Alltag ist laut, anstrengend und von einer ständigen Behauptung der eigenen Position geprägt. Eine Gesellschaft, in der sich eine Vielzahl heterogener Gruppen im Dauerstreit befindet und die gleichzeitig versucht, sich durch eine willkürlich gezogene Betonmauer gegen Terroranschläge zu schützen, hat nur wenig Platz für ruhige kontemplative Momente.

Auch im Tanz spielt die streng geordnete Ästhetik des Balletts daher nur eine untergeordnete Rolle. Zeitgenössische israelische Choreografen setzen sich im Wesentlichen mit zwei Faktoren auseinander: Der Herausbildung einer individuellen, oft expressiv-aggressiven Körpersprache und dem Spannungsverhältnis zwischen Gruppe und Individuum.

So wie israelische Theater- und Kinoproduktionen sich vor lauter Handlungssträngen und Konflikten nur wenig um die Entwicklung neuartiger Formen kümmern, ist auch der Tanz vor allem eine Explosion des Ausdrucks. Flaggschiff der kleinen aber äußerst produktiven Szene ist, seit ihrer Gründung durch Martha Graham im Jahr 1964, die Batsheva Company, die mit ihrem oft fast animalischen Ausdrucksstil weltweit das Publikum begeistert. Doch auch unabhängige Choreografen wie die in New York aufgewachsene Yasmeen Godder widmen sich in ihren Produktionen hauptsächlich gruppeninternen Machtspielen, die mit kaum erträglicher Grausamkeit ausgetragen werden.

Während in Europa junge Tanzkünstler ihre Karriere meist mit introspektiven Solostücken beginnen, sind in Israel sogar die schwer finanzierbaren choreografischen Debüts in der Regel Gruppenstücke. Auf der Bühne der Berliner Festspiele präsentieren die Jüdischen Kulturtage nun drei Arbeiten, die bei „Curtain Up”, einem Festival für junge Choreografen im Tel Aviver Tanzzentrum Suzanne Dellal, zu sehen waren: In „Solar Plexus” lässt die 1978 geborene Maya Levy vier Tänzer zwischen abstrakter Körpererfahrung und konkretem physischen Konflikt oszillieren, während die kaum ältere Michal Herman in ihrem Stück „Hunger” ein Trio durch eine lose Szenenfolge existenzieller Situationen hetzt.

Odelya Kupferberg, die seit ihren ersten Arbeiten oft mit Yasmeen Godder verglichen wird, kontrastiert das Zusammenspiel zwischen ihren drei weiblichen Interpreten in „Three 2 One” durch das beiläufige Vorübergehen nicht-tanzender Passanten. Gemeinsam ist den drei Produktionen nicht nur ihre starke Emotionalität, sondern auch eine tüchtige Portion schwarzen israelischen Humors. Die ist auch dringend notwendig, denn trotz einer allmählich einsetzenden Förderpolitik bleibt die finanzielle Lage für Tänzer und Choreografen in einem Land, das nach wie vor einen Großteil seines Budgets in die Armee investiert, äußerst prekär. Unter jungen Leuten, die sich nach „zivilisierten” Lebens- und Arbeitsbedingungen sehnen, ist der Traum von Europa oder den USA weit verbreitet. Der israelischen Szene fehlen nicht nur die Mittel, sondern auch der intellektuelle Anschluss an das internationale Geschehen. Aus Protest gegen die Besatzungspolitik in den Palästinensergebieten weigern sich nach wie vor zahlreiche wegweisende Künstler, zu Gastspielen nach Israel zu kommen, und ihre Arbeiten sind, wenn überhaupt, nur auf Video zugänglich. Daher entscheiden sich viele Tänzer für die Emigration.

Namen wie Hofesh Shechter, der von London aus inzwischen weltweit mit brachialen Formationstänzen begeistert, oder der kürzlich nach Frankreich ausgewanderte Emanuel Gat illustrieren dieses Dilemma. Auch Roni Haver und Guy Weizman sind tänzerische Emigranten: Vor knapp sieben Jahren ließen sich die beiden ehemaligen Batsheva-Tänzer im holländischen Groningen nieder und gründeten das Kollektiv „Club Guy & Roni”, das im Zusammenspiel mit bildenden Künstlern und Musikern mitreißende Gruppenstücke erarbeitet. Ihre neueste Produktion „Poetic Disasters”, die sich zu einer Komposition von Heiner Goebbels mit der Chaostheorie beschäftigt, ist am zweiten Abend in den Festspielen zu sehen. Trotz längerem Auslandsaufenthalt ist ihrer Arbeit die typisch israelische Körpersprache zwischen defensiver Zurücknahme und aggressiver Entladung immer noch deutlich anzumerken.

„Curtain up - Junger Tanz aus Israel” mit Michal Herman „Hunger”, Odelya Kupferberg „Three 2 One”, Maya Levy „Solar Plexus”, heute um 20 Uhr im Haus der Berliner Festspiele Club Guy & Roni „Poetic Disasters”, am 18. September um 20 Uhr im Haus der Berliner Festspiele
 

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