Politisch bis erotisch
Die zweite Woche von „Tanz im August“ mit Faustin Linyekula, Anne Collod/Anna Halprin, Cecilia Bengolea/François Chaignaud und Thomas Hauert
Tanz im August: In „Pâquerette” erkunden François Chaignaud und Cecilia Bengolea die tänzerischen Erfahrungsmöglichkeiten des menschlichen Anus
Wenn man den ästhetischen Wert eines Tanzstückes nach der kinästhetischen Wirkung auf sein Publikum bemisst, ist „Pâquerette” von François Chaignaud und Cecilia Bengolea ein kleines Meisterwerk. Denn es packt den Zuschauer genau an der Stelle, auf der er normalerweise mehr oder weniger entspannt und bequem sitzt: Seinem Schließmuskel. In dem 30minütigen körperlich-künstlerischen Versuch der beiden Tänzer ist das Sakrum Dreh- und Angelpunkt eines Geschehens, dem man bereits nach den ersten Momenten im wahrsten Sinne des Wortes gespannt beiwohnt, ja das es unmöglich macht, die komfortable Position des kritischen Beobachters einzunehmen.
Im Gegensatz zum Gros der Produktionen, die bislang bei „Tanz im August” zu sehen waren, wird der Körper hier nicht zum Zeichen in einem spektakulären Apparat, der beeindrucken, mitteilen oder womöglich nur unterhalten will – er wird als lebendige, atmende Präsenz sichtbar und setzt sich dabei selbst aufs Spiel.
Die Grundidee ist ebenso simpel wie wirkungsvoll: Beide Tänzer, der blondgelockte zerbrechlich-feminine Chaignaud und die dunkelhaarige, in ihrer Präsenz mütterlich-herbe Bengolea führen sich zu Beginn des Stückes, unter zwei goldbestickten Brokatumhängen verborgen, 25 Zentimeter lange Dildos in ihr Rektum ein. Der eigentliche Akt bleibt zunächst unsichtbar, nur die körperlichen Reaktionen der Akteure – ihr tieferes Atmen, ein schmerzvolles Stirnrunzeln bei Bengolea, ein dramatisches Verdrehen der Augen bei Chaignaud -, werden im Raum sichtbar. Bereits an dieser Stelle, die eine Stimmung zwischen feierlichem Ritual und der Unschuld eines kindlichen Doktorspiels hervorruft, wird deutlich, dass es hier nicht um Choreografie im strengen Sinne gehen wird, sondern um das neugierige Ausloten einer Körpererfahrung.
Gleichzeitig machen sich die beiden Tänzer zu Projektionsflächen: Interessanterweise entstehen dabei kaum sexuelle Assoziationen, auch nachdem die Umhänge abgelegt sind und sich die Körper mit quasi künstlich verlängerter Achse nackt im Raum bewegen: Einfache, archaische, fast biblische Bilder des Leidens und der Freude flackern auf und verschwinden wieder. Gerade Chaignaud erinnert mit seiner Lockenpracht und dem jugendlich glatten Torso an Christusdarstellungen oder Märtyrer wie den Heiligen Sebastian. Gleichzeitig behält die Bühnenperformance stets eine feine Ironie, die jede provokative oder voyeuristische Lesart mit leichter Geste wegwischt.
Die beiden drängen sich aneinander, rempeln sich an, verharren im Gleichgewicht, drücken mit angewinkeltem Beinen die durchsichtigen Fremdkörper tiefer in ihr Inneres, als seien sie dabei, die veränderte Körper- und Raumerfahrung ihrer manipulierten Leiber auszutesten. Auch als die Dildos entfernt werden und Mann und Frau einander in spielerischen Hebefiguren mit den Fingern anal penetrieren, bleibt immer eine Beiläufigkeit, die das Stück vor dem Umkippen in eine tumbe Provokation bewahrt.
Sicherlich wird „Pâquerette” nicht Tanzgeschichte schreiben. Dazu bleibt die Performance zu sehr künstlerisches Leichtgewicht, die sich auf das spielerische Umkreisen einer einzigen Grundidee beschränkt, ohne dabei jedoch die existenzielle Wucht der ähnlich minimalistischen Arbeiten von Boris Charmatz zu erreichen.
Und gerade darin liegt die Stärke des Stückes: Die Leichtigkeit, mit der es eine so heftig gesellschaftlich, philosophisch und moralisch konnotierte Körperstelle wie den Anus zum Anlass für ein kindliches Spiel werden lässt, führt die selbstzensorische Vorsicht der Veranstalter ad absurdum, die „Pâquerette” als für Zuschauer unter 18 Jahren ungeeignet erklärt haben.
Weit davon entfernt, ein „Skandalstück” zu sein, erscheint diese erste Arbeit von Chaignaud und Bengolea im Kontext von Tanz im August gleichsam als ironischer Kommentar zu den Produktionen ungleich bekannterer Kollegen, die allzu oft mit großem technischen und personalem Aufwand das völlige Fehlen eines künstlerischen Anliegens kaschieren. Nasser-Martin Goussets buntes sinnentleertes Spektakel „Comedy” beispielsweise erscheint da deutlich skandalöser.
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