Kein Skandalstück
Tanz im August: In „Pâquerette” erkunden François Chaignaud und Cecilia Bengolea die tänzerischen Erfahrungsmöglichkeiten des menschlichen Anus
Die zweite Woche von „Tanz im August“ mit Faustin Linyekula, Anne Collod/Anna Halprin, Cecilia Bengolea/François Chaignaud und Thomas Hauert
Auch in der zweiten Woche zeigte der „Tanz im August“ Extreme auf, wie man sie von Berlins Internationalem Festival erwartet. Vieles brach sich im Betrachter misstönig, manchmal verstand man die Auswahlkriterien nicht, doch solange man sich über die Produktionen wenigstens aufregen kann, haben sie ihren Zweck erfüllt. Fraglos trifft das auf „More, More More… Future“ des kongolesischen Choreografen Faustin Linyekula zu. Mit vier Musikern, drei Tänzern entkleidet er den Ndombolo, den Pop aus Kinshasas Nachtklubs, gespeist aus Rumba, Rhythmus, Blasmusik, Funk, seiner schillernden Fassade und konfrontiert ihn mit der Realität des Landes. Die anklagenden Texte eines prominenten Polithäftlings tragen dazu bei, dass aus dem getanzten Konzert eine deprimierende Bestandsaufnahme der Verhältnisse im Kongo wird: mit viel Zorn, aber wenig Hoffnung auf die Zukunft. Zumindest kulturpolitisch bedeutsam war auch „Parades & Changes, Replays“ der Französin Anne Collod. Mit namhaften Interpreten hat sie ein Stück von Anna Halprin, einer heute 89-jährigen Pionierin des Tanzhappenings, rekonstruiert. Was 1965 Furore gemacht hat und im prüden Amerika 25 Jahre lang mit dem Bannstrahl des Verbots belegt war, entbehrt heute jeder Provokation: Dass die Tänzer eingangs wieder und wieder vor geblähtem Vorhang modelhaft ihre Anzüge ablegen, von seriös zu nackt wechseln, nervt eher als es erregt. Dann aber nehmen die Bilder und der Witz des Stücks für sich ein: Wie aus nackten Körpern, die Papierbahnen zerreißen, eine fast kulinarische Massenskulptur wird, wie sie sich mit bunten Versatzteilen von Pumps bis Patronengürtel zu wandernden Objekten drapieren, wie sie Plastikbahnen mit Rollspaß zum Schneeball knüllen, sich am Ende farbig schminken, auch die Genitalien, ist unverkrampfter Umgang mit Sexualität.
Erotisch ist auch „Sylphides“. Nach ihrer Analfantasie vom Vorjahr wenden sich Cecilia Bengolea und Francois Chaignaud aus Paris diesmal den Untoten der Ballettromantik zu. Bei ihnen werden daraus Fantasywesen. Vier Latexkissen pumpt man die Luft ab, bis das Material den drinnen befindlichen Leibern wie eine Zweithaut anliegt. An atmende Fledermäuse, eingeschweißtes Fleisch aus dem Supermarkt, schwarz gefärbte Gipsabdrücke aus Pompeji, Reliefs auf Epitaphien fühlt man sich erinnert, wenn sich die Wesen langsamst erheben und bewegen. Dass sie neu aufgeblasen werden, wie Wale in Schräglage übereinander kippen, bedient das makabre Spiel. Als sie sich häuten und zu Seichtpop grotesk tanzen, erlischt der Zauber sofort – ein künstlerisches Eigentor. Ähnlich ergeht es dem Schweizer Thomas Hauert und seiner Gruppe ZOO mit „Accords“. In einem knappen Dutzend atemberaubend harmonisch und organisch erfundener Miniaturen schickt er sieben exzellente Tänzer auf Entdeckungsreise ins Land der puren Bewegung und unterlegt ihren dynamisch durch den Raum wogenden, bisweilen fliegenden Formationsstrudeln Musik von Bach über Ravel, Rachmaninow, Satie bis zu Flamencogitarre. Voller Bezüglichkeit reagieren die einknickenden, ausbeulenden, hangelnden Körper aus der engen, meist berührungslosen Distanz. Höhepunkt der vielgliedrigen, auch polyphon agierenden Plastik in Dauerveränderung ist der Tanz zu Naturlauten wie Zwitschern. Der ellenlang sich anschließende Walzer erschlägt eine der besten Produktionen des Festivals, indem er ihr jedes Geheimnis nimmt.
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