Plädoyer gegen Rassismus im Tanz
Neu erschienen: die Biografie des kubanischen Tänzers Osiel Gouneo
Das Bayerische Staatsballett und John Neumeiers „A Cinderella Story“
Schon darin, wie sich beim Begräbnis von Cinderellas Mutter im kalten Sturm die weißen Flächen des Bühnenbilds (Jürgen Rose) nach hinten ins Schwarz verlieren, wie die Teilnehmer der Beerdigung verschwinden und Cinderella zurückbleibt, um auf dem Grab einen Orangenbaum zu pflanzen, dessen Wachstum uns die verstreichende Zeit zeigt, liegen starke Konstituenten der zu erzählenden Handlung. Ferner darin, wie vier Vogelgeister auftauchen und mit einer Hebung Cinderellas vermitteln, dass sie die Heldin ist, deren von der Mutter geprägtes Selbstbewusstsein sie im Verlauf der ihr begegnenden Widrigkeiten stärken. Der Prinz, von Neumeier zum leidenschaftlichen Zeichner gemacht, ist nachhaltig fasziniert, als er Cinderella erblickt. Er beginnt sie zu porträtieren und geht ihr nach, seit sie erstmals seinem Blick entschwindet. Seine Skizze ist die Spur, der er folgt. Damit erweitert Neumeier das Märchen und gewinnt mit der Abbildung ein im Vergleich zum verlorenen Schuh für die Ballettbühne tauglicheres Element, mit dem sich auch bei der dem Prinzen aufgezwungenen Brautschau trefflich spielen lässt.
In der Wiederaufnahme nach sechs Jahren, zumal der ersten Vorstellung der neuen Spielzeit, kam die Kompanie nicht gleich auf die gewohnte Betriebstemperatur. So schien es, als in der neuen Familie des Vaters Cinderellas böse Schwestern (Daria Sukhorukova und Ilana Werner) ihre vorgebliche Trauer tanzten, doch beide legten später zu. Auch Roberta Fernandes verwischte als eigentlich scharf gezeichnete Stiefmutter vieles. Lisa-Maree Cullum in der Titelrolle tanzte nach langer Verletzung wieder exakt und fand im Duett mit Norbert Graf, der Cinderellas Vater facettenreich-dezent verkörperte, aus Cinderellas Resignation zu liebevollen Reminiszenzen an die Mutter, die mit der sanft schwebenden, Güte ausstrahlenden Séverine Ferrolier ideal besetzt war.
Mit Alen Bottaini kam tänzerischer und darstellerischer Glanz, schon als er sich dem Vortanzen der ihm zugeführten Prinzessinnen verweigerte. Dabei agierte die erste (Stephanie Hancox) pointiert und ausdrucksstark, der zweiten (Feline van Dijken) fehlte noch etwas vom exotischen Zauber. Der Prinz, vom in seiner Majestät komisch-starren Vater (Vincent Loermans) zum Heiraten gedrängt, fühlt, dass er weg muss! Doch wohin? Beim Blick auf die begonnene Zeichnung wird seine Erinnerung lebendig, wird die Sehnsucht nach Cinderella in ihm stark. Diesen Verlauf tanzte Alen Bottaini völlig bruchlos. Den komplizierten Weg eines Boten des Königs machte Wlademir Faccioni zum Kabinettstück: Da, wo Cinderella putzt, ist der Schnellfüßige richtig und lässt eine Einladung fallen. Aber Cinderellas neue Familie bricht ohne sie zum Ball im königlichen Schloss auf. Doch nun trägt ihre Erinnerung an die Mutter: An deren Grab halten die vier hilfreichen Vogelgeister ein Kleid und Schmuck für sie bereit, und herrlich gelang das Quintett, in dem Cinderella mit ihnen nun ihrem Wunsch entgegen fliegt.
Mit hohem Tempo und Witz würzte das Trio der Minister (Wlademir Faccioni, Ché Daniel McMahon und Ilia Sarkisov) den schon dank des eleganten Corps de ballet eindrucksvollen Hofball, wo nach den Bewerberinnen des Prinzen auch Cinderella auftaucht. Vor dem großen Spiegel kommen beide zusammen, tanzen langsam, ihre Blicke treffen sich, sie finden und verlieren sich. Der Ball geht weiter, und immer wieder ist ein anderes der Paare sehenswert. Doch dem Prinzen fehlt, unter all den Schönen, nur sie. Lisa-Maree Cullum spielte Cinderella ganz aus der Ruhe. Neben Alen Bottaini, dessen Drehungen mit guter Spannung in sichere Balancen mündeten, ging sie aus sich heraus! Hebefiguren der Harmonie und Schritte, von wechselseitiger Liebe beflügelt, fanden zu ruhigem Einklang. Doch als der Prinz glücklich seinen Vater umarmt, ist Cinderella ist verschwunden. Emotionaler Alarm, auch in der Musik, Durcheinander der Paare, Abbruch! Im Reisemantel sucht der Prinz nun wechselnde Stationen auf, und Alen Bottaini gestaltete dies gekonnt zur kontinuierlichen Reise. Indem er der ersten, freundlich-verlockenden Prinzessin resigniert ihren Hut aufhebt, zeigt der Prinz auch, dass er gelernt hat, alle Frauen, nicht nur die eine, zu achten, einer der vielen Aspekte, die Neumeier zum Thema des Erwachsenwerdens zeigt. Als nach einem jungen Paar auch die zweite Prinzessin tanzt und abgeht, fällt der Prinz trotz musikalischen Fortissimos in Schlaf. Cinderellas Mutter erscheint ihm, und danach führt ihn seine Erinnerung zu ihrem inzwischen baumbeschatteten Grab.
Manche meinen, das alles sei zu episch-langatmig und tänzerisch nicht spektakulär. Horst Koegler aber merkte 1998 an, dass es Neumeier „immer um eine zeitgenössische Form des Balletts zu tun war, die ihre theatralische Legitimität aus ihrer dramatischen Motivation bezieht, um Inhalte, um Kommunikation, um Poesie – um (...) das Tanzen des nicht mehr mit Worten Auszudrückenden.“
Das Ende des Stücks bestätigt das: Cinderellas Vater weist dem Prinzen den Weg zum Baum, in dem sie sitzt. Der findet sie und setzt sich unter diesen Baum. Cinderella geht, er bleibt, den Kopf zwischen den Armen. Cinderella kommt und setzt sich neben ihn. Diese Pause zeugt vom gedanklichen Reichtum, mit dem Neumeier emotionale Abläufe zeigt: Sie dehnt den großen Moment, wenn sich die füreinander Bestimmten finden! Der Pas de deux danach ist schön und spannungsvoll, aber gleichzeitig seine Auflösung! Denn die Sorgsamkeit, mit der nun beide miteinander tanzen, weist schon in die Zukunft: Da fliegen die vier Vogelgeister (Tigran Mikayelyan, Javier Amo Gonzales, Maxim Chashchegorov und Nour El Desouki), bedeutsam statuarisch in ihren Bewegungen und doch mit kraftvollen Sprüngen. Der Prinz und Cinderella sind schon unterwegs. Ihr Vater bleibt vor dem Baum zurück, sein Leben hat sich erfüllt.
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