Wie ein Ufo gelandet: Forsythes „Artifact“

Premiere beim Zürcher Ballett

Zürich, 01/09/2008

2004 musste William Forsythe sein Frankfurter Ballett nach 20 Jahren „abwickeln“. Damit sind auch etliche seiner Werke von der Bühne verschwunden. Denn erstens ist seine neue Company nicht groß genug, um Abendfüller wie „Impressing the Czar“ (1988) oder „Artifact“ (1984) zu spielen. Zweitens hat sich der Ballettguru inzwischen ganz andere Ziele gesetzt, die mit Tanz nicht mehr viel zu tun haben. Erinnert sei an seine choreografischen Installationen wie „Human Writes“ oder „You made me a Monster“.

Wie gut, dass es Häuser gibt, die willens und imstande sind, die frühen Forsythe-Klassiker (bzw. Anti-Klassiker) mit ihren Truppen neu zu beleben. Das Royal Ballet of Flanders unter Kathryn Bennett hat vor einiger Zeit „Impressing the Czar“ ins Programm aufgenommen. Und beim Zürcher Ballett von Heinz Spoerli hatte jetzt „Artifact“ Premiere. Nicht nur der 2. Akt, nicht nur in Form einer Suite, sondern das ganze Stück! Einstudiert von den ehemaligen Frankfurter Tänzern Jodie Gates, Noah Gelber, Agnès Noltenius und auch von William Forsythe himself.

Das Zürcher Ballett (inklusive Mitglieder von Spoerlis Junior Ballett) ging damit ein Wagnis ein – und hat gewonnen. Verlangt wird viel. Für „Artifact“ müssen die Tänzerinnen (alle auf Spitzen) und Tänzer nicht nur die klassische und neoklassische Ballettsprache in Kopf und Körper beherrschen, sondern auch den Mut aufbringen, mit Vertrautem radikal zu brechen. Sie schaffen es, und erst noch mit sichtbarer Lust. Die meist sehr jungen Tanzenden verabschieden sich von der klassischen Balance, stürzen sich ins Ungewisse. Ihr Körperzentrum rotiert, die Bewegungen springen aus den gewohnten Bahnen. Ruhe gibt es kaum mehr. Arme und Beine holen übertrieben aus, scheinen sich wie durch Computeranimation zu verlängern. Etwa im konzentriert getanzten Pas de Deux im 2. der vier Akte, mit seinen ungewöhnlichen Verkettungen (Pilar Nevado/Iker Murillo und Julie Gardette/Vahe Martirosyan).

Besonders im 1. Akt, aber auch später kommt es zu traumhaft schönen Gruppenszenen. Sie verzaubern umso mehr, als sie gewissermaßen „verdient“ werden müssen. Denn Forsythe durchkreuzt die wohligen Erwartungen immer wieder: Die Bühne ist zu dunkel, fließende Abläufe werden jäh gestoppt, oder der Vorhang fällt zur falschen Zeit rasselnd zu Boden. Dazu tauchen drei Figuren auf, der magischen oder der nervensägenden Art: Eine Frau in Weiß (Sarah-Jane Brodbeck) repräsentiert vielleicht den abstrakten neoklassischen Tanz, eine penetrante Dame im Rokokokostüm (Kate Strong) das verstaubte Handlungsballett, ein Mann mit Megafon (Nicholas Champion) einen unzufriedenen heutigen Choreografen. Oder so ähnlich. Jedenfalls wollen alle Drei die Tanzenden auf ihre Seite ziehen und kommen sich dabei in die Quere. Dem Megafon-Mann und der Rokoko-Frau quellen unaufhörlich englische Wörter aus dem Mund: in, out, see, think, forget, remember usw. In wechselnder Abfolge, was einen immer anderen Sinn ergibt. Oder auch Unsinn.

Das gleiche Spiel wird mit der Musik betrieben. Basis bildet Bachs berühmte Chaconne aus der d-Moll-Partita für Violine solo, die im 2. Akt in einer (überdrehten) alten Aufnahme mit Nathan Milstein erklingt. Im 1. und 4. Akt spielt Margot Kazimirska am Flügel Variationen zum Chaconne-Thema und weitere Kompositionen, die von Forsythes früherer Chefrepetitorin Eva Crossman-Hecht (1930-89) stammen. Für den 3. Akt hat Forsythe eine eigene laute Sound-Collage geschaffen, die noch ein paar Bach-Fetzen enthält. Hier wagen die Tänzerinnen und Tänzer, teils improvisierend, die stärksten Brüche mit dem Klassischen. Sie stürzen sich mit Affentempo ins Gewusel, hüpfen im Spagat wie Gummibälle hoch. Doch trotz aller Verrenkungen bleibt Forsythes Ballett rätselhaft schön. Wie ein Ufo ist es auf der Bühne des Zürcher Opernhauses gelandet. Letzter Befehl an die Tanzenden: „Step outside.“

www.opernhaus.ch

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