Highlights mit Anna Huber, Gilles Jobin oder Guilherme Botelho
Die Zeitgenössischen Schweizer Tanztage 2011
Ende Oktober, früher Wintereinbruch in Bern. Beim Verlassen der Dampfzentrale unten an der Aare fallen dicke Schneeflocken auf die mit Blättern bedeckten Strassen. Dünne Strassenbeleuchtung. Eine Stimmung, so wirklich-unwirklich wie zuvor bei der Uraufführung von Anna Hubers jüngstem Solo „Eine Frage der Zeit“. Die Kreation, das sei vorweggenommen, ist ein Wurf. Man darf ihr eine so lange Zukunft prophezeien wie Hubers „Unsichtbarst“. Dieses 1998 entstandene Solo gehört wieder zu ihrem Repertoire. Im Lauf der Zeit hat es sich weiter entwickelt, verfeinert, blieb aber im Kern unverändert.
Wie eine Außerirdische erscheint Huber in „Eine Frage der Zeit“ - vom Himmel gefallen mit dem Schnee? Das neue Solo erinnert auch insofern an eine Schneeflocke, als die Tanzelemente so ziseliert sind wie die Muster einer Flocke, wenn man sie unter die Lupe nimmt. Zwar hat auch Anna Huber nur zwei Arme und Beine, zwei Hände und Füße. Aber ihre Bewegungen im Großen und erst recht im Kleinen nehmen hunderterlei Gestalt an. Manchmal erinnert die Tänzerin an eine indische Gottheit mit vielen vibrierenden Armen, dann wieder reduziert sich das Geschehen auf ein paar Finger, die auf dem Boden laufen. Kleinkindern gleich, die miteinander spielen oder in Streit geraten.
Die Tänzerin scheint wirklich von einem andern Stern zu kommen. Allerdings nicht von jenem Planetoiden, woher Saint-Exupérys „Petit Prince“ stammte. Anna Huber hat wenig Rührendes an sich, trotz ihrem Kindergesicht mit den großen Augen. Lächeln will sie erst beim großen Schlussapplaus. Das Besondere an ihr sind die Neugier an ihrem eigenen biegsamen Körper, das Erproben jedes einzelnen Müskelchens, das Staunen über sich selbst. Ihre Präzision. Alles mit der kühnen Ausdauer einer Forscherin.
Für einprägsame Strukturen in diesem filigranen Stück sorgt der Sound. Martin Schütz hat eine Musik-Geräusch-Kulisse geschaffen, die an Weltraum erinnern, an Sphärenklänge und Meteoritengeklirr. Am Anfang und Schluss erschreckt Schütz durch Lautexzesse, zwischendurch bezaubert oder befremdet er mit esoterischen Effekten aller Art. Die Musik kommt vom Tonträger, doch ist sie in enger Zusammenarbeit mit der Tänzerin entstanden. Und zwar in der Berner Dampfzentrale, wo Anna Huber seit 2007 mit der Unterstützung verschiedener schweizerischer Kulturinstitutionen bis 2009 Artist in Residence ist.
Beim Tanzen trägt Anna Huber schwarze Hosen und Langarmpulli. Die Schuhe lässt sie bald einmal stehen, nun ist sie barfuß. Breite Silberbänder ziehen sich über den Bühnenboden hinauf an die Rückwand (Raum: Thilo Reuter). Dann, im letzten Drittel des Stücks, verschwindet Huber kurz hinter der Kulisse, kommt völlig verwandelt in rotem Kleid mit Eskimomütze zurück. Schließlich tanzt sie „Eine Frage der Zeit“ wieder in Schwarz zu Ende, nur hat das Oberteil jetzt Spaghetti-Träger. In allen Phasen ist die Solistin angenehm, doch irgendwie fremdartig anzuschauen. Eine Außerirdische eben.
Die heute 43–Jährige mit dem runden Kopf und dem Kurzhaarschnitt wirkt immer noch wie ein junges Mädchen. Sie wuchs in Bern auf, konnte ihre künstlerische Karriere in Berlin aufbauen, kehrte dann wieder in die Schweiz zurück. Ein Wesen voller Gegensätze: schüchtern, subtil, introvertiert – und gleichzeitig ausdauernd, energisch und weltbezogen. Für ihre Arbeit wurde Anna Huber vielfach ausgezeichnet: 1998 von der Zeitschrift Ballett International/tanz aktuell, 2001 von der Mary-Wigman-Gesellschaft Köln, 2005 mit dem Hans-Reinhart-Ring, dem wichtigsten Schweizer Theaterpreis. Auch „Eine Frage der Zeit“ erscheint medaillenverdächtig.
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