Abschluss einer Ära
Mit den Hamburger Ballett-Tagen endet die Intendanz John Neumeiers
Die nackte Story ist schnell erzählt: Blanche DuBois, Tochter aus gutem Südstaatenhause, wird mit dem Niedergang ihrer Familie, der Homosexualität und dem Tod ihres Mannes nicht fertig, zieht zur Schwester und deren Mann nach New Orleans, landet nach einer Vergewaltigung durch den Schwager im Irrenhaus. Tennessee Williams’ Drama (1947) adaptierte John Neumeier 1983 in Stuttgart für den Tanz, damals mit Marcia Haydée und Richard Cragun, 1987 fand dann die Hamburger Erstaufführung mit Colleen Scott und Ivan Liška statt. Und jetzt also die Wiederbegegnung mit einem Werk, in dem der geniale Neumeier eine unglaublich reiche Palette an feinsten bis gröbsten Regungen ausbreitet innerhalb eines dramaturgisch stringenten Geschehens. Selbst, als er im zweiten Teil an einigen Stellen des Guten, der gleichzeitig vorn, mittig, hinten und seitlich ablaufenden Aktionen, zuviel tut, bleibt die Spannung gewahrt, wenn auch der Überblick etwas verloren geht.
Auf der weitgehend leer geräumten Bühne schafft Neumeiers als sein eigener Bühnen- und Kostümbildner mit wenigen Mitteln das jeweilige passende Ambiente. Ein Brechtscher Zwischenvorhang setzt die erste und letzte Szene, Klammer des Ganzen, deutlich ab: Blanche auf einem Bett im Irrenhaus, weiß gekleidet, in sich versunken, abgekapselt von der Außenwelt. In ihrem Kopf läuft das Tanzschauspiel ab. Mit diesem klugen Kunstgriff vermag John Neumeier Gegenwart und Vergangenheit choreografisch einzufangen. Hohe Türen an den Seiten, ein Säulenprospekt im Hintergrund künden von der Größe der Plantage mit dem beziehungsreichen Namen Belle Rêve (Schöner Traum). Neumeier zeigt im ersten Teil mit wenigen Schritten die Gefährdung der Blanche, die an ihrem Hochzeitstag auf Belle Rêve wie ziellos hin und her irrt. Er entwickelt die Morbidität einer brüchigen Gesellschaft durch die Schichtung in die Tiefe der Bühne. Zu den „Visions fugitives“, kurzen Stücken von Sergej Prokofjew (1915-17), in der originalen Klavier- und der von Rudolf Barshai arrangierten Streicherfassung, platziert er Gruppen der Hochzeitsgäste, der Brautjungfern mit Begleitern in den Raum, ohne die Solisten zu überdecken. Als Blanche entdeckt, dass ihr Bräutigam Allan einen Mann leidenschaftlich küsst, bricht eine Welt für sie zusammen. Das zarte Wesen geht wie eine Furie auf Allan los. Typisch für Neumeier geht auch dabei die Form nicht verloren, ohne an Intensität zu verlieren. Sein Meisterstück im meisterlichen Ganzen liefert Neumeier mit dem innigen Männer-Pas-de-deux von Allan (Peter Dingle) und seinem Freund (Dario Franconi) ab: Der strahlt eine tiefe Liebe aus, Liebe zwischen zwei Menschen, unabhängig vom Geschlecht. Dingle und Franconi gestalten mit brennender Intensität den berührenden Paartanz. (Tennessee Williams, selbst schwul, griff später das damals absolute Tabu-Thema „Die Katze auf dem heißen Blechdach“ wieder auf.) Die Fassade bröckelt, das Säulenprospekt kippt ab. Untergangsstimmung.
Im zweiten Teil „New Orleans“ setzt Neumeier die Sezierung der Seelenzustände fort. In Schichten von vorn nach hinten durchgestaltet, spielen sich oft krass unterschiedliche Szenen ab, die sich zu einem differenzierten Gesamtbild zusammenfügen, die Einsamkeit der letztlich hilflosen Blanche akzentuieren. Zu den Klängen der katastrophischen Ersten Sinfonie von Alfred Schnittke, in der sich Vergangenheit und Gegenwart hemmungslos mischen, in der ein Zitat aus Beethovens Fünfter Sinfonie dem Jazz gegenüber tritt, eingewoben in Schnittkes mitreißende Komposition, baut Neumeier, ohne je sklavisch der Musik zu folgen, mit seinem klassich-modernen Idiom den unaufhaltsamen Gang Blanches in den Abgrund. Eine Marschkolonne mit wehenden Fahnen marschiert voran, verliert die Fahnen, kriecht schließlich fast über die Fläche: Sinnbild des vergeblichen Widerstandes der Blanche?! Das Anstaltsbett mit den drei Liebhabern (genüsslich geil: Yohan Stegli, Kiran West, Vladimir Hayryan), denen Blanche sich nach Allans Tod verzweifelt hingegeben hat, bleibt immer vorn rechts im Blick. Silvia Azzoni als Blanche: zart, fragil, man meint, sie könne jeden Augenblick körperlich zerbrechen in ihrer Verlorenheit. In jedem Moment technisch souverän spielt sie die extremen Stimmungsschwankungen der Blanche nicht plakativ expressiv aus, sondern stellt sie in meist zurückhaltender Gestik und Mimik als innere Ausbrüche dar: Der Schrecken implodiert. Weit über diese Grenzen geht sie in ihrer furiosen Reaktion auf das Entdecken ihres Mann als Homosexuellen, dessen vielfach wiederholten Tod, in ihrem stummen Schrei bei ihrer Vergewaltigung durch Stanley Kowalski, den Mann ihrer Schwester Stella...
Der verleiht Carolina Agüero temperamentvoll Sinnlichkeit, sie genießt den zugreifenden Sex mit ihrem Mann, sie weint „Belle Rêve“ keine Träne nach, lebt im Hier und Jetzt mit ihrem Stanley. Und der ist Carsten Jung: prachtvoller Oberkörper ohne ein Gramm Fett mit strukturierten Muskelpartien, Waschbrettbauch. Der Proletarier mit unbändiger Lebenslust, rücksichtslos, bedenkenlos. Jung wirft seine Athletik in die Waagschale, scheinbar anstrengungslos bewältigt er die kühnsten Hebungen. Attraktiv auf seine Art – aber mit zu wenig animalisch sexueller Ausstrahlung. Bei seinen brutalen Zugriffen wirkt er auf mich fast wie ein grausamer Junge, der Fliegen die Flügel ausreißt. Die Vergewaltigung der Blanche ist eher eine kraftstrotzende Gymnastik mit Kopulationsbewegungen als überzeugende Gewalttat – auch einer der wenigen Schwachpunkte Neumeiers Choreografie.
Lloyd Riggins gibt in seiner unnachahmlichen Weise den verdrucksten Mitch, verklemmt, voller Sehnsucht nach der Frau, nach Blanche. Um gleich bei der ersten Prüfung kläglich zu versagen: Als Kowalski ihm die verflossenen Liebhaber der „nymphomanen“ Blanche zeigt, rastet Mitch aus, verlässt der bigotte Spießbürger die Frau. Dreifach bewährt sich Peter Dingle mit immer schöner Linie. Als Allan entfaltet er sehr präsent die anrührende Melancholie eines Liebenden, dem die Gesellschaft die Erfüllung versagt. Im zweiten Teil meint Blanche in Dingles Zeitungsjungen ihren Mann zu erkennen, vollführt mit ihm die Paarsequenz, die sie mit Allan getanzt hat. Dingle zeigt die Verwirrung, dann das Nachgeben. Schließlich erscheint er als Arzt, der Blanche sanft zurück in Irrenhaus führt. Das imponierende Ensemble gab sich keine Blöße, agierte mit beeindruckender Dynamik und bewundernswerter Konzentration in den vielen Episoden etwa als Einwohner von New Orleans und Hochzeitsgäste. Die Musik kommt bis auf die Klavierinterpretationen (Richard Hoynes) aus der Tonkonserve (bei Schnittke ist es der Mitschnitt der Uraufführung 1974 mit dem Philharmonischen Orchester Gorki, Leitung: Gennadi Roschdestwenski). John Neumeier hat wieder einmal gezeigt, dass er beim Handlungsballett das Maß der Dinge ist und bleibt.
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