Abschied von Patrick Dupond
Der ehemalige Solotänzer und langjährige Ballettdirektor der Pariser Oper ist verstorben
Roland Petits „Proust ou Les intermittences du coeur“ an der Pariser Oper
In einem Interview sagte Roland Petit einmal, er sei wählerisch bei den Premieren seiner eigenen Ballette. Wenn er die Aufführung nicht gut genug finde, weigere er sich, am Schluss vors Publikum zu treten. Er schimpfe nicht, sondern schleiche einfach ab. Die Kritik an den Mitwirkenden verschiebe er auf den nächsten Tag. Jetzt, bei der Wiederaufnahme seines Stücks „Proust ou Les intermittences du coeur“ (Die Unregelmäßigkeiten des Herzens) an der Pariser Opéra Garnier, ist er nicht abgeschlichen. Selbstbewusst und strahlend betrat der 85-Jährige die Bühne, um die Ovationen des Publikums entgegenzunehmen.
In der Tat: Die Strahlkraft vieler Bilder des Balletts über Prousts Welt, inspiriert von Szenen aus dem siebenbändigen Lebenswerk „A la recherche du temps perdu“, hat sich erhalten. Die Uraufführung mit dem Ballet de Marseille in Monte Carlo liegt zwar 35 Jahre zurück. Aber immer noch bewundert man die Raffiniertheit und Finesse von Petits neoklassischer Tanzsprache, wo die Frauen kaum je von den Spitzen herunterkommen. Zwiespältiger wirken einige allzu karikierende, expressionistisch übersteigerte Auftritte, wie sie Petit etwa der Figur des Monsieur de Charlus zumutet. Ausgerechnet der seriöse Manuel Legris, langjähriger Danseur Etoile in Paris und ab 2010 neuer Ballettchef an der Staatsoper Wien, muss sich auf der Bühne derart gequält herumdrücken, dass man am liebsten wegsehen würde. So sehr verzehrt sich Charlus vor Liebe zum Geiger Morel. Stéphane Bullion dagegen mimt diesen Morel mit Erotik und Kraft – wohl so, wie sie bei der Uraufführung 1974 Petits damaliger Star Rudy Bryans auf die Bühne brachte.
Roland Petits Ballett hat zwei Akte. Der erste trägt den Untertitel „Quelques images des paradis proustiens“, der zweite „Quelques images de l’enfer proustien“: Bilder also, die aus Paradies oder Hölle à la Proust stammen. Der 1. Akt bringt wunderbar ästhetische, auch leicht dekadente bis morbide Szenen aus dem Leben des jungen Proust (Hervé Moreau) in der Provinz. Gekleidet im Stil der Belle Epoque bewegt sich die reiche bürgerliche Gesellschaft um Madame Verdurin (Stephanie Romberg). Damen trippeln durch die Natur, Mädchen tanzen am Strand. Swann und die Kokotte Odette lieben einander, Albertine und Andrée verstricken sich in Geheimnisse. Proust beobachtet Albertine (Isabelle Ciaravola) im Schlaf. Die raffinierten Bühnenbilder (Bernard Michel) und Kostüme (Luisa Spinatelli) stammen nicht von der Uraufführung, sondern aus der Werkstatt der Pariser Oper. Sie sind, wie der Tanz, von erlesenem Geschmack mit einem Einschlag von Haut Goût.
Fragwürdiger wirken einige Tanzszenen aus dem 2. Akt, der Proustschen Hölle. Die allzu heftigen Qualen von Monsieur de Charlus angesichts von Morel wurden schon erwähnt. Als Fremdkörper wirkt eine Szene mit Schattengestalten im Gegenlicht; sie zeigt das Liebesspiel dreier Männer und einer nackten Frau. Die wippenden Brüste der Tänzerin erinnern daran, dass Roland Petit, der sich auf vielen Gebieten versuchte, eine Zeitlang Geschäftsführer des Revuetheaters Casino de Paris war, wo seine Ehefrau und Muse Zizi Jeanmaire auftrat. Echt Proustsche Stimmung bringt dafür das Duett „Morel et Saint-Loup ou le combat des anges“, wo Homosexualität in die Sphäre der strahlenden (Saint-Loup) oder dunklen Engel versetzt wird. Das Abschlussbild zeigt eine ähnliche Gesellschaft wie am Anfang des Balletts. Madame Verdurin ist Duchesse de Guermantes geworden. Aber das Alter und der Erste Weltkrieg haben Spuren hinterlassen. Alle tragen jetzt Schwarz, die Augen sind düster umrahmt, der Tanz wirkt wie der von Marionetten. Ein schwerer Spiegel verdoppelt das Ganze, versetzt gleichsam die Gegenwart in die Vergangenheit.
Die Musik zu „Proust ou les intermittences du coeur“, vom Orchester der Opéra National de Paris unter Koen Kessels mit großem Einsatz gespielt, umfasst auf den ersten Blick ein Kunterbunt von Sätzen verschiedener Komponisten. Sie sind aber keineswegs willkürlich ausgewählt und niemals so wüst gemischt wie bei Maurice Béjart. Vielmehr erklingt im 1. Akt mit Kompositionen von César Franck, Camille Saint-Saëns, Claude Debussy u.a. jene Musik, die der junge Proust geliebt hat. Während der pathetischere 2. Akt mit Beethoven anfängt und mit Wagner aufhört, wie sie der ältere Proust bevorzugte.
Wie weit ist das Ballett „Proust ou Les intermittences du coeur„ dem legendären Romanzyklus „A la recherche du temps perdu“ von Marcel Proust (1871-1922) gewachsen? Natürlich ist dem Choreografen Roland Petit von Kritikern vorgeworfen worden, sein Ballett sei eine Anmaßung. Andere Fachleute, auch Literaten, schwärmen davon, wie präzis die Stimmung einzelner Szenen getroffen sei. Das Programmheft – erstklassig wie oft an der Pariser Opéra – enthält aufschlussreiche Hinweise. Zu jeder Szene des Balletts (sieben im 1. Akt, sechs im 2. Akt) gibt es eine Reihe Fotos, eine Inhaltsangabe und ein passendes Zitat aus „A la recherche du temps perdu“. Dazu kommen Angaben über die ausgewählte Musik. Schließlich findet man im Programmheft auch eine Liste jener zahlreichen Werke von Roland Petit, welche die Opéra de Paris im Repertoire führte oder führt. Darunter sind auch Uraufführungen wie „Notre-Dame de Paris“ (1965) oder „Le Fantôme de l’Opéra“ (1980). Petit war 1970 auch ein halbes Jahr lang Ballettdirektor an der Pariser Opéra. Doch das ist eine andere Geschichte.
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