Die Saat geht auf

20 Jahre Ballettzentrum Hamburg – Anlass für eine opulente „Gala“ mit fünf Ballettschulen aus aller Welt

Hamburg, 27/10/2009

Die erste Ballettwerkstatt der Spielzeit 2009/10 war dem zwanzigsten Geburtstag des Ballettzentrums Hamburg gewidmet, Heimstatt der Kompanie, Ausbildungsstätte für rund 70 SchülerInnen in insgesamt 10 Klassen und Internat für 35 angehende Tänzer und Tänzerinnen zugleich. Heute ist es kaum noch vorstellbar, dass es einmal ganz anders bestellt war um diese Kompanie von Weltruf: Trainingsräume im ehemaligen „Bierpalast“ am Dammtorbahnhof, immer zu wenig Platz, und nie genug Zeit und Raum für Proben. John Neumeiers Verbleib in Hamburg hing 1985 am seidenen Fädchen – und seine Ansage war eindeutig: Wenn es nicht gelinge, für Schule und Kompanie ein adäquates Gebäude einzurichten, sei er nicht gewillt, seinen Vertrag zu verlängern. Keine leere Drohung – Wien lockte ihn seinerzeit mit wesentlich besseren Konditionen als Hamburg sie ihm bot. Es war der Hartnäckigkeit der damaligen Kultursenatorin Helga Schuchardt zu verdanken, dass das nervenaufreibende Tauziehen dann doch zugunsten des Balletts ausging. Zweimal war der Antrag, die ehemalige Mädchen-Oberrealschule in der Caspar-Voght-Straße im Stadtteil Hamm dem Ballett zu widmen, im Hamburger Senat durchgefallen. Während der Ballett-Tage dann, am 11. Juli 1985, am Abend des Gastspiels des Balletts Marseille, kam nach der Vorstellung der erlösende Anruf der Senatorin: „Es ist durch.“

Noch heute versagt Neumeier die Stimme, wenn er an diesen Moment denkt – denn mit dem Ballettzentrum ging für ihn auch ein Traum in Erfüllung. Der lichtdurchflutete, großzügig angelegte Bau des Stadtbaumeisters Fritz Schumacher war ideal für das Projekt Ballettzentrum. Direktion, Schule, Internat und Kompanie unter einem Dach – besser ging’s nicht. Einer der Probensäle hat sogar exakt die gleiche Größe wie die Bühne der Hamburgischen Staatsoper. Dass das Haus dann vom Innenausbau so werden konnte, wie Neumeier sich das vorstellte, dass sogar historische Wandgemälde freigelegt und restauriert werden konnten, verdankt Neumeier zahllosen Spendern und Mäzenen, allen voran dem Ehepaar Hermann und Else Schnabel, die spontan mit einer Millionenspende aus Privatvermögen das letzte noch offene Loch stopften, mit der einzigen Bedingung, dass dieses Ballettzentrum den Namen des Ballettdirektors tragen sollte. Ein Geschenk, das Neumeier bei der Nijinsky-Gala dem Publikum völlig überwältigt mitteilen durfte (die Namen der Gönner zu nennen, hatten sie ihm damals noch strikt untersagt, später jedoch ließ sich das dann nicht mehr verheimlichen).

Dass sich nicht nur diese Investition, sondern auch die des Senats über all die Jahre mehr als gelohnt hat – das stellte die Schul-Gala am Abend des 26. Oktober eindrücklich unter Beweis. Die „Hausherren“ selbst eröffneten mit allen Ausbildungs- und Theaterklassen den Reigen mit den „Jubliäumstänzen“, einer Hommage des Ballettmeisters und -pädagogen Kevin Haigen an George Balanchine. So manches Talent blitzte da bei den komplizierten Ensembles hervor, die höchste Konzentration und Präzision erfordern und vielfach Gelegenheit boten, saubere Arm- und Beinarbeit zu zeigen (und was noch ein bisschen wackelte, wurde großzügig übersehen). Danach erwiesen Gäste aus fünf der namhaftesten Ballettschulen der Welt Hamburg und John Neumeier die Referenz. Aus Kanadas National Ballet School in Toronto kamen Emma Hawes und Shawn Throop mit dem weißen Pas de deux aus „Schwanensee“ in der Version von Erik Bruhn. Das war brav zelebriert, aber unübersehbar schimmerte hindurch, dass dieser Pas de deux doch erheblich mehr erfordert als eine gute Technik (zumal die Musik vom Tonband, eine offenbar antiquarische Aufnahme von technisch minderer Qualität, allzusehr schepperte) – eine Reife und Erfahrung, die 16- oder 18-jährige Tänzer noch nicht haben können. Etwas spritziger, aber dennoch nicht „Top of the Top“: der Beitrag der acht Eleven der ehrwürdigen L’École de Danse de l’Opéra National de Paris (gegründet 1713!), die mit den „Péchés de Jeunesse“ (übersetzt: Jugendsünden) angereist waren, einem Stück des ehemaligen Étoile Jean-Guillaume Bart. Das war nett getanzt, teilweise durchaus auch mit Esprit, aber so richtig wollte der Funke nicht überspringen.

Das gelang nach der Pause den Gästen aus Kopenhagen dann aber umso eindrücklicher: Det Kongelige Teaters Balletskoler hatte seine blutjunge Kompagni B entsandt, und die 13 Tänzer und Tänzerinnen mischten im Handumdrehen die gesamte Staatsoper auf... Kompagni B besteht noch radikaler als das Nederlands Dans Theater 2 (mit der Altersgruppe 17-22 Jahre) aus 13 Tänzern im Vor-Bühnenalter von 12 bis 16 Jahren, die sich unter Anleitung der künstlerischen Direktorin Ann Crosset ein gemeinsames Konzept und gemeinsame Regeln geben. In ihrer in kreativer Zusammenarbeit entstandenen brandneuen Collage „If We dance...“ (uraufgeführt am 1. Oktober 2009 in Kopenhagen) zitieren sie die Großmeister des Tanzes mit einer umwerfenden Unbekümmertheit neu – John Neumeier selbst ebenso wie Marius Petipa und August Bournonville. Klar, dass sie deren Stil bereits respektabel beherrschen, klar, dass sie vor nichts und niemandem zurückschrecken, und klar, dass sie alles einsetzen, was ihnen an Material geboten erscheint. Eine volltönende weibliche Stimme spricht nachdenkliche Texte aus dem Off, am hinteren Prospekt scheint ein Video auf: Wasser, Himmel, aber auch Sprechblasen, Begriffe in zig verschiedenen Sprachen, alles mit viel Tempo. Genauso dynamisch das Geschehen auf der Bühne: bevor man seinen Blick richtig sortiert hat, stürmt eine Streetgang herein und legt feinsten Breakdance auf den Ballettteppich. Ensembles arrangieren sich, lösen sich auf, gruppieren sich neu – mal klassisch, mal modern, mal gemixt. Grazile Mädchen im schwarzen Tütü mit quietschblauer oder kreischlilafarbener Perücke sprechen mit umwerfender Naivität und Komik inhaltsschwere Sätze, während sie von klassisch schwarz-weiß gekleideten Jungs sprungvoll umflogen und von Ballerinen umtänzelt werden. Das Ganze gipfelt in der Frage: „If we dance... today, can we move you tomorrow?“, und auf der Videoinstallation erscheint „Beweg den Moment“. Eine phänomenale Performance, angesichts derer das Publikum schier aus dem Häuschen geriet. Natürlich lädt John Neumeier eine solche Gruppierung nicht ohne Hintergedanken ein: Wenn es noch irgendeines überzeugenden Arguments bedurft hätte, sein schon seit Jahren gehegtes Projekt eines „Hamburg Ballett Youth“ voranzubringen – hier wurde es perfekt serviert. Dass so etwas beim Publikum glänzend ankommt, bewies der kaum enden wollende Beifall.

Das Kontrastprogramm dazu lieferte dann Daniel Camargo von der John Cranko Schule Stuttgart, seit dieser Spielzeit Tänzer beim Stuttgarter Ballett, mit den überaus anspruchsvollen „Notations I-IV“ von Uwe Scholz zu Musik von Pierre Boulez. Das war keine Schuldarbietung mehr, das war darstellerisch wie technisch bereits Spitzenklasse. Auch Yasmine Naghdi und Sander Blommaert von der Royal Ballet School London zeigten einen reifen und gut durchgearbeiteten Pas de deux aus „Concerto“ von Kenneth MacMillan zum Klavierkonzert Nr. 2 von Dmitri Schostakowitsch. Die Hamburger wiederum beschlossen den Abend: frisch in die Kompanie übernommene Tänzer zeigten „Des Antonio von Padua Fischpredigt“ sowie eines der absoluten Kleinode des Hamburg Ballett: „Wo die schönen Trompeten blasen“, beides aus „Des Knaben Wunderhorn“. Maria Baranova und Thomas Stuhrmann überzeugten bei letzterem durch eine wunderbar ruhige Gestik bei gleichzeitig rührender jugendlicher Unschuld. Die Krönung des Abends jedoch hatte John Neumeier zwei seiner Ersten Solisten übertragen, die zeigten, was auf der Basis einer guten Ausbildung und einer sorgfältigen Arbeit mit und in der Kompanie unter Führung eines klugen und kreativen Choreografen zu höchster Blüte kommen kann: Anna Polikarpova und Ivan Urban – sie eine Schülerin des Waganowa-Instituts in St. Petersburg, er ein Zögling der Schule des Hamburg Ballett – tanzten das Adagietto aus der Fünften Sinfonie von Gustav Mahler, ebenfalls ein Heiligtum im Repertoire der Hamburger. Neumeier hatte sich im Herbst 1989 spontan entschlossen, diese Sinfonie zu choreografieren – beglückt und inspiriert von der neuen Heimat, die das Ballettzentrum ihm und dem gesamten Ensemble bot. Dass zeitgleich die Mauer fiel, hat ihn, wie er sagt, „noch mehr beflügelt“ bei diesem Werk, das „viel mit der Öffnung von Grenzen zu tun hat.“ Anna Polikarpova und Ivan Urban bewiesen das auf eine Art und Weise, die das ganze ausverkaufte Haus bis hinauf in die letzte Reihe des 4. Rangs nur noch stumm staunen ließ (kein einziges Räuspern, kein einziger Huster war zu hören, und das in der Erkältungs- und Grippesaison!) – so innig, so beseelt, so einander hingegeben, so würdig und so edel hat man diesen Pas de deux selten erlebt. Das Publikum dankte mit Standing Ovations und langem Applaus.

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