Eine Julia, stark wie Kate Winslet

„Julia und Romeo“, eine erstaunliche Premiere von Cathy Marston und dem Bern:Ballett

Bern, 12/10/2009

Am Berner Stadttheater muss gespart werden. Noch immer ist ungewiss, ob das hauseigene Ballett abgeschafft werden soll. Nach der jüngsten, sehr erfolgreichen Premiere von „Julia und Romeo“ zur Musik von Sergej Prokofjew (1891-1953) steigen die Chancen des Überlebens.

1940 schuf Leonid Lawrowski zu Prokofjews Originalmusik in Leningrad, dem jetzigen St.Petersburg, als russische Erstaufführung die grundlegende Fassung von „Romeo und Julia“ (die Uraufführung fand 1938 durch Ivo Psota in Brünn statt). Lawrowskis Choreografie hat sich im Mariinsky-Ballett bis heute im Repertoire gehalten. Danach sind unzählige neue Versionen des Werks im klassisch-romantischen Stil entstanden (Ashton, Cranko, MacMillan, Neumeier, Spoerli usw.). Daneben gab und gibt es auch immer wieder moderne Fassungen mit zeitgenössischem Tanz.

Zu ihnen gehört auch „Julia und Romeo“ von Cathy Marston. Die Berner Inszenierung wirkt fast pompös. Das städtische Symphonieorchester unter Dorian Keilhack bringt Prokofjews Musik überaus plastisch zum Klingen. Garance Marneur hat ein geheimnisvoll-imposantes Bühnenbild geschaffen: Auf beiden Seiten erheben sich Gerüste, in denen zuweilen auch die Tanzenden herumklettern. An den Sprossen hängen Bilder aus Ballett-, Schauspiel- oder Filmaufführungen von Shakespeares „Romeo und Julia“-Stoff. Eine große Scheibe im Hintergrund spiegelt das Geschehen auf der Bühne und gibt ihr Weite und Tiefe. Manchmal verwandelt sich der Spiegel auch in Sonne oder Mond und dient als Wiedergabefläche für Video-Bilder.

Im Widerspruch zu diesem üppigen musikalischen und gestalterischen Rahmen steht, dass insgesamt nur elf Tänzerinnen und Tänzer auftreten. Viel mehr Mitglieder hat das Bern:Ballett nicht aufzubieten. Doch mit ihrem Engagement und Ehrgeiz, ihrem tänzerischen Einsatz und ihrer Einfühlung vermögen die Tanzenden die Bühne glatt zu füllen. Obwohl sich Cathy Marston, ursprünglich vom klassischen Ballett herkommend, in ihrer Choreografie auf modernen Tanz beschränkt, sind die Rollen von einer soliden gemeinsamen Basis aus vielfältig-individuell gestaltet. Mit der Einschränkung, dass das Helle, Ätherische, das in Shakespeares Liebestragödie und den meisten Ballettversionen vorhanden ist, bei Marston zu kurz kommt. Das Düstere, Schicksalshafte dominiert. Dabei enthält Prokofjews Musik doch auch poetische Motive.

Marston versetzt die Handlung aus der italienischen Renaissance in spätere Zeiten. Der Ball bei Julias Familie Capulet erinnert an eine Party von neureichen Bankern. Die Mitwirkenden tragen heutige Kleidung, von ein paar älteren Details abgesehen (Kostüme: Dorothee Brodrück). In dieser Gesellschaft zücken die Jungen beim Streit keine Degen mehr, dafür umso rascher ihre Dolche. In beiden Fällen mit tödlichen Folgen. Und warum hat Marston die Namen im Titel des Balletts umgestellt? Ihr Stück heißt „Julia und Romeo“, weil die Handlung aus Julias Perspektive erzählt wird. Sie wehrt sich gegen die Opferrolle der Frauen und erlebt fassungslos mit, wie rasch die Männer zu den Waffen greifen.

Paula Alonso als Julia verlässt in der 90-minütigen Aufführung nie die Bühne. Nach langen, intensiv gestalteten Auftritten bleibt sie zumindest im Hintergrund präsent. Sie gibt eine starke, leidenschaftliche Geliebte, die wenig an Shakespeares zartes vierzehnjähriges Mädchen erinnert - sondern eher an Kate Winslet aus dem „Titanic“-Film. Solche Assoziationen entstehen etwa, wenn sich Julia mit ausgebreiteten Armen weit nach vorn dehnt, wie Winslet am Bug des Schiffs.

Denis Puzanov als Romeo wirkt jugendlich und energiegeladen – und sieht seinerseits Leonardo di Caprio in der erwähnten „Titanic“ durchaus ähnlich. Puzanov tanzt vital in den Soli, empfindungsvoll in den intim-verschränkten Duetten mit Julia. Jianhui Wang gibt einen dämonisch kraftvollen Tybalt. Dass die Amme (Hui-Chen Tsai) so jung sein muss und der verwegene Spieler Mercutio zur Mercutia (Emma Lewis) mutiert, hängt wohl mit besagter Kleinheit des Bern:Balletts zusammen. Doch alle gestalten ihre Rollen zu unverwechselbaren Figuren.

Eine neue Funktion erhält Bruder Lorenzo (Erick Guillard): Normalerweise ist er ein Eremit, der die geheime Hochzeit von Julia und Romeo absegnet. In Marstons Version, wo der Balkonszene gleich die gemeinsame Liebesnacht folgt, tritt Lorenzo eher als Julias ständiger Schatten, als Archivar oder Geistheiler auf. Er blättert in alten Büchern, hält Julia mehrmals vom Suizid ab und lehrt sie, sich für ihren Scheintod in Selbsthypnose zu versetzen. Vergeblich. Romeo glaubt, Julia sei tot, und bringt sich um. Darauf erwacht sie, sieht den leblosen Geliebten und stößt sich selber den Dolch in den Leib. Eine Versöhnung der verfeindeten Familien der Capulets und Montagues wie am Schluss von Shakespeares Drama oder in Lawrowskis Ballettfassung gibt es nicht. Es bleibt beim bösen Ende.

www.stadttheaterbern.ch

www.cathymarston.com

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