In der Blasmusik steckt der Fortlauf des Lebens
"En Avant, Marche!" von Alain Platel und Frank Van Laecke als deutsche Erstaufführung
Die Helsinki Dance Company zeigt Kenneth Kvarnströms „no-no“
Eigentlich hatte er 1996 etwas zur Musik von Luigi Nono choreografieren wollen, erklärt Kenneth Kvarnström auf die Frage nach dem Titel seines Tanzstücks „no-no“. Im Verlauf der Arbeit habe er jedoch bemerkt, dass die Musik nicht mehr zum Konzept passte, den Titel habe er trotzdem beibehalten. Und, so fügt er schmunzelnd hinzu: „Es müsste heute eigentlich yes-yes heißen!“ Als Gast bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen wird die Helsinki Dance Company mit ihrem bravourösen Klassiker der Tanz-Moderne umjubelt. Zu einer Klangcollage (Jyrki Sandell) mythischer Geräusche und arabischer Gesänge vor dreizehn Jahren choreografiert, hat „no-no“ – auch ohne Luigi – nichts an Vitalität eingebüßt. Ein Blick auf die Musik im Einzelnen überrascht. Aus dumpfem Grummeln, das wie eine Basslinie den Abend durchzieht, erhebt sich näselnd der Gesang der Berberin Houria Aichi, Sheikh Abdulbasset Abdessamad rezitiert Koransuren, beides in Kombination mit elektronischer Musik des Briten Muslimgauze (pro Hamas und PLO), den Ambiente-Klängen des Iren Aphex Twin (dem „Mozart des Techno“) sowie dem weltumspannenden Soundmix der australischen Gruppe Dead Can Dance, die afrikanische Perkussion, australische Didgeridoos, asiatische Saiteninstrumente, europäische Gitarren und Synthesizer verwenden.
Vor dem Hintergrund dieser zwar abenteuerlichen, dennoch dezenten Klangcollage fällt die exquisite Tanztechnik der sieben Interpreten ins Auge. Geschmeidig gehen die Körper zu Boden, rollen, drehen, tauchen auf und setzen zum Sprung an - Bewegungsqualität, die einen (Panther) vor Neid erblassen lassen. Mit klarem Impuls wird eine Bewegungen in Fluss gebracht, um im nächsten Moment, mal Legato auszuhauchen, mal Glissando abzurutschen oder – von Stakkato-Brüchen und kurzen Tremoli gerüttelt – am Boden zu verenden. Offenbar lieben die Finnen außer Tango auch Butoh. Keineswegs nur Spurenelemente des japanischen Experimentaltanzes finden sich in „no-no“, sondern – neben Einflüssen aus Modern Dance und Afro – überdurchschnittlich viel Butoh-Vokabular. Insbesondere das innovative Repertoire von Anzu Furukawa ist den Nordlichtern in Fleisch und Blut übergegangen. Die Japanerin (1952-2001) hatte für die finnischen Tänzer 1994 „Frühlingsopfer” und 1995 „The Butohworks Bo” (Keppi) sowie „Shiroi mizu” (Villi Vesi) choreografiert. Mit nachhaltiger Wirkung, wie sich zeigt, denn der gute Ruf finnischer Tanzproduktionen profitiert davon bis heute. So musikalisch, leicht und fließend wie der einzelne Tänzerkörper gegensätzliche Bewegungsqua¬litäten abruft, so spielerisch finden die Tänzer zueinander, lassen voneinander. Präzision und Synchronizität sind atemberaubend. Ein Flow-Erlebnis, das nach fünf Viertelstunden in einer Serie furios explosiver Sprünge mündet und einmal mehr die letzten Kraftreserven mobilisiert. Licht aus, Ton aus, im Dunkel ist nur zu hören, wie sie nach Luft schnappen. Heftiges Atmen, abgelöst von brausendem Applaus.
Die Vorstellung, ausgestattet in schwarz und weiß, kommt abstrakt und aufgeklärt daher. Eine weiße, leere Tanzfläche, umsäumt von einer durchgehenden hellen Sitzbank mit integrierten Scheinwerfern und ausklappbaren Spiegelreflektoren. Die stringente Lichtregie (Bühne & Licht: Jens Sethzman) und der pure Tanz unterstreichen diesen Eindruck, der jedoch durch fein dosierte Irritationen – ein Mann mit Zylinder, ein Tänzer im Mausgang mit Widderhörnern, ein Glaszylinder mit Tierschädel – unterlaufen wird. Aber ist, was aussieht wie purer Tanz, wirklich nur purer Tanz? Der Widerspruch zwischen magisch-mysthischer Ferne und aufgeklärter Grundstimmung lässt zweifeln. Wo liegt der Schlüssel zum Verständnis? Ist es Nonos „Intolleranza 1960“? Wem gilt der Applaus? Ihm gehe es bei der Wiederaufnahme seines Stückes um „Reaktionen und Lesarten der Zuschauer“, sagt Kvarnström und verrät auf Nachfrage, dass die geheimnisvollen, arabischen Zeichen auf den Oberkörpern der männlichen Tänzer „left“, „right“, „orange“ und „closed“ heißen. Ein Narr, der dabei nicht an Guantánamo-Häftlinge denkt? Auch Nono, ein bekennender Linker, hatte sich in „Intolleranza 1960“ seinem ersten Werk für die Opernbühne gegen die Unterdrückung von Freiheit und für Menschenwürde eingesetzt. Das Stück „no-no“ könnte auch als Hommage an die viel zu früh verstorbene Anzu Furukawa gelesene werden, schade nur, dass Kvarnström die Credits vergessen hat. Dass die kreative Leistung von Frauen unterschlagen wird, ein unausrottbares Laster männlicher Geschichtsschreibung. Aber Vorsicht: Dead can dance, Tote können tatsächlich tanzen.
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