Zeitlos vergnügliches Wohnen

Sasha Waltz & Guests machen die Sophiensaele zur „Allee der Kosmonauten“

Berlin, 22/01/2009

Intensive Lokal-Studien standen vor der Uraufführung von „Allee der Kosmonauten“, mit der Sasha Waltz 1996 die Sophiensaele eröffnete. Dazu hatte sich die aus Karlsruhe gebürtige Choreografin in die Marzahner Plattenbauzentrale begeben. Was ihr dort an Episoden unterkam, vielleicht auch, was von der gerade zu Sensationserfolg geführten „Travelogue“-Trilogie an Material übrig geblieben war, das verarbeitete sie zu einem köstlichen Genrebild von Wohnkultur. Wieder waren es kleine Leute, denen sie liebevoll ironisch in ihr Leben und häuslichen Alltag blickte. Was Begeisterungsstürme auslöste, Preise errang, verfilmt wurde und weltweit über 150 Vorstellungen erzielte, das nahmen Sasha Waltz & Guests nun zum 15-jährigen Bestehen der Kompanie am Premierenort erneut auf. Waltz ist damit eine der raren zeitgenössischen Choreografinnen mit lebendigem Repertoire. Mehr noch verblüfft, wie zeitlos frisch das 70-minütige Stück nach wie vor wirkt.

Einsam schaut ein Mann von seinem hohen Brettersitz an der Zimmerwand auf Batterien von Monitoren und, einziges fixes Requisit der Wohnlandschaft, ein Plüschsofa herab. Als das Brett abkippt, steigt aus der Tiefe des Sofas ein Mitbewohner auf, der zu Smetanas „Moldau“ und Radiosalat aberwitzig steif Sitze und Lehne umturnt. Schläfrig gesellt sich ihm eine fett ausgestopfte Frau mit Brille und Wasser ziehenden Strümpfen bei. Als ein Schatten zu lauter Popmusik tanzt, eskaliert ein Streit bis zur Gewalt. Die kurze Ruhe danach täuscht. Beim Zeitungslesen hebt sich der Tisch, bis zwei nackte Beinpaare sichtbar werden, senkt sich wieder, schrägt sich an, wandert umher, wechselt die Träger. Der Junge darunter spielt bald Pferdchen mit dem Vater, das Mädchen verstrickt sich mit dem Brettsitzer immer wieder in ein aggressiv begehrliches Miteinander.

Mutter zerrt einen Sack herein, dem der Vater entsteigt, zum Akkordeon greift, Stimmung herbeispielt. Die Jugend torpediert diese biedere Gemütlichkeit mit dem Kassettenrecorder. Als der Sohn sich am Akkordeon vergreift, straft ihn der Vater mit einem virtuosen Würgeduett. Vater spielt weiter, diesmal im Kopfstand, so zärtlich wie traurig umfangen vom misshandelten Sohn. Videos von Hochhäusern, Straßen, Trams, Parks kolorieren all die Wohntristesse. Vater bringt beim Umbau kommandierend Schwung ins Zimmer. Dazu tragen, schwingen, besteigen, heben, klappen die Anderen Bretter artistisch so unnachahmlich, dass man seine schiere Freude hat. Anschließend tanzen alle russische Hackenabschläge, deren Fröhlichkeit rasch versiegt. Denn Liedzeilen wie „Dein ist mein ganzes Herz“ und „Ich hasse Einsamkeit“ spotten der Realität. Die Jüngste, aufgezogen wie eine Puppe auch sie, tanzt ihren Frust heraus, der Sohn tastet sich unterm bestülpten Kopf vorwärts, der Vater wird beim Einräumen eines Regals zum glasrückenden Pedanten. Zu einem Medley von DDR-Hits formiert sich der streitende Clan zur Fotopose, aus der er erschreckt ins Publikum aufsieht. Der Spaß, den Sasha Waltz und ihre Originalmannschaft beim Erfinden der skurrilen Typen und ihrer absurden Situationen hatten, teilt sich noch heute mit. Die Qualität des Tanzes in diesem ungemein originellen, akrobatisch perfekten, dicht gewebten surrealen Tableau bleibt ein Meilenstein weit über den zeitgenössischen Tanz Berlins hinaus. Juan Kruz Diaz de Garaio Esnaola, Luc Dunberry, Nicola Mascia, Takako Suzuki, Laurie Young und, als einziger Neuzugang, Yael Schnell sind in Komik, Rollenprofil und Technik schlichtweg umwerfend.

Bis 25.1., Sophiensaele, Sophienstr. 18, Berlin-Mitte, Kartentelefon 283 52 66, Infos unter www.sophiensaele.com

Kommentare

Noch keine Beiträge