Abschluss einer Ära
Mit den Hamburger Ballett-Tagen endet die Intendanz John Neumeiers
Es sei gleich von vornherein gesagt: die Verfilmung von John Neumeiers „Sylvia“ mit Aurélie Dupont (Sylvia), Manuel Legris (Aminta), Nicolas Le Riche (Amor-Orion), Marie-Agnès Gillot (Diana) und José Martinez (Endymion) - fünf der funkelndsten Etoiles der Pariser Oper der letzten Jahre – ist ein Geschenk an die ballettbegeisterte Nachwelt (siehe auch die tanznetz-Besprechung vom März 2005). In seiner Kreation aus dem Jahr 1997 gelang dem Hamburger Ballettdirektor eine vollkommene Verbindung des virtuosen und präzisen Pariser Stils mit seinem besonderen Talent, subtil Geschichten zu erzählen und Menschen in ihren emotionellen und existenziellen Verwicklungen darzustellen.
Verfilmt wurde das Meisterwerk zwar nicht in der Besetzung der Uraufführung – in der neben den schon damals präsenten Herren Legris, Le Riche und Martinez noch Monique Loudières als Sylvia und Elisabeth Platel als Diana zu sehen waren – doch erscheinen Aurélie Dupont und Marie-Agnès Gillot nicht weniger begabt, ihre vielschichtigen Rollen in dem zum Tanzdrama umfunktionierten Klassiker auszufüllen. Neumeier und seine Mitarbeiter modernisierten den Mythos kohärent und überzeugend – nicht nur optisch, mit einem zeitlosen Bühnenbild (Yannis Kokkos), in dem starke Farben und klare Formen statt Ornamente der opulenten Expressivität der Musik gerecht zu werden suchen, sondern auch in der Neuinterpretation der Handlung. Die Geschichte der kämpferischen Nymphe Sylvia, die sich in den Schäfer Aminta verliebt und mit Amors Hilfe die durch Diana und den eifersüchtigen Orion aufgestellten Hindernisse überwindet, bis sie am Schluss zu ihrem Geliebten findet, deutet Neumeier um zur zeitlosen Geschichte einer disziplinierten, zielstrebigen und unabhängigen jungen Frau, die sich der Liebe öffnet, sich in der Welt verliert und dabei die reine Liebe ihrer Jugend aus den Augen verliert, bis es zu spät ist.
Wie so oft verwebt Neumeier Delibes herrliche Musik, die dieser für die Uraufführung im Jahr 1876 im frisch erbauten Palais Garnier komponierte, so mit dem Geschehen, dass Musik und Choreografie in jedem Moment zusammenspielen, um Stimmung und Gefühle verständlich zu machen.
Neumeier gibt übrigens an, dass Delibes ausdruckstarke und sinnliche Partitur für ihn der erste Anreiz war, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Er stellte die Reihenfolge leicht um, strich einiges und fügte stattdessen einen Ausschnitt aus „La source“ hinzu, um die in früheren Versionen beinahe absente Diana durch einen originellen Pas de Deux mit dem schlafenden Endymion genauer zu charakterisieren. Für jede einzelne Figur und auch für die verschiedenen Gruppen des Corps de Ballet (Helfer Amors, Waldgeister, Ballgäste) schafft Neumeier dabei eine eigene und eigenwillige Bewegungssprache, die die handelnden Personen charakterisiert. Dabei entwickelt sich allerdings nur Sylvia im Laufe des Stückes – ihr Tanz gleicht zunächst dem der Diana, dann den Bewegungen in Orions Welt, und nähert sich schließlich wieder Aminta an, bevor sie die Entscheidung trifft, sich endgültig von ihm zu trennen. So verlässt sie die unsichere, instabile Welt des stolpernden, mit den Armen rudernden und immer wieder zusammensackenden Hirten – der trotz der am Ende grauen Haare alle Naivität und Verletzlichkeit der ersten Begegnung bewahrt hat –, um einem umso graueren Ehemann in ein, wie Neumeier es nennt, geordnetes Leben zu folgen. Dabei erlauben immer wieder starke Zooms auf Gesichter oder einander umklammernde Hände, der Gefühle der Protagonisten gewahr zu werden.
Sehr interessant auch das Interview mit John Neumeier und Brigitte Lefèvre als Zusatz, in dem die beiden die Entstehungsgeschichte des Werkes aufrollen, zu gekonnt illustrierenden Ausschnitten aus dem Ballett. Hier erwähnt Lefèvre unter anderem die herausragende Bedeutung John Crankos, seiner Kompanie und seines Erbes in der Tanzwelt. Mit „Sylvia“ hat Frankreichs größte Kompanie – überzeugender als in Neumeiers und Crankos dramaturgischen Stuttgarter Meisterwerken „Kameliendame“ und „Onegin“ – ihren eigenen Weg gefunden, das unter anderem von Cranko zur Blüte gebrachte „psychologische“ Handlungsballett auf der Bühne zu verwirklichen.
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