Und wem gehört Ravel?

Zwei Ballettkreationen von Jörg Mannes und Terence Kohler

oe
München, 22/11/2010

„Mein Ravel“ annonciert das Bayerische Staatsballett seinen neuen Abend. Doch wer ist es, der so kühn Ravel für sich reklamiert? Sind es die beiden Choreografen, die das Programm bestreiten: Jörg Mannes, Jahrgang 1969, Ballettchef in Hannover, und Terence Kohler, geboren 1984, Haus-Choreograf der Münchner Kompanie, oder, wie das heute so schön heißt, ihr resident choreographer? Ist es Ivan Liška, der Münchner Ballettchef, der behauptet, seit seinen Prager Tagen von Ravels „Daphnis und Chloé“-Ballett fasziniert zu sein? Oder ist es Kent Nagano, Münchens Opernchef, der höchst persönlich die Neueinstudierungen der beiden Ballette „Wohin er auch blickt…“ und „Daphnis und Chloé“ betreut? Und wo bleibt MEIN Ravel?

Um die letzte Frage zu klären: MEIN Ravel, das war nicht das „Hommage à Ravel“-Festival des New York City Ballet von 1975 (trotz Balanchine, Robbins etc.). MEIN Ravel, das war John Neumeiers „Daphnis und Chloé“, zuerst 1972 beim Frankfurter Ballett und dann sein „Klavierkonzert in G“ 1993 beim Canadian National Ballet in Toronto (es fehlt übrigens in der Auflistung der Ravel-Ballette im Münchner Programmheft).

Der exzeptionelle Rang der Münchner Ravel-Ballettpremiere verdankt sich primär Nagano, dem Bayerischen Staatsorchester samt Chor und Klaviersolistin Momo Kodama, die das Nationaltheater in einen Konzertsaal von höchster akustischer Güte verwandelten und einen Ravel-Kosmos beschworen, der vom zartesten und duftigsten Pianissimo bis zu den elementarsten Klangeruptionen reichte. Und mich so an ein paar musikalische Höhepunkte der jüngeren Ballettgeschichte erinnerten: als Boulez zusammen mit der Béjart-Kompanie 1962 bei den Salzburger Festspielen Strawinskys „Les Noces“ und „Sacre du printemps“ dirigierte.

Oder an Karajan, der bei Erich Walters Einstudierung der „Planeten“ von Gustav Holst 1961 in Wien dirigierte, oder auch an Lorin Maazel, der ebenfalls in Wien 1983 Neumeiers „Daphnis und Chloé“ und den „Feuervogel“ betreute. Das war vor 27 Jahren – seither nichts, kein Keilberth oder Sawallisch in München, kein Russell Davies oder Honeck in Stuttgart, kein Thielemann in Berlin, München oder Dresden, auch kein Levine in München. Und nun also Nagano. Ich bin gespannt, wie viele Vorstellungen er denn wohl dirigieren wird! Nein, an das künstlerische Niveau Naganos (an diesem Abend, der zweiten Vorstellung des neuen Programms), reichen die beiden Choreografen nicht heran.

Noch nicht? Ihre exzellente Musikalität zumindest steht außer Frage. Und gern attestiert man ihnen auch ihre grundverschiedene Einstellung zu der Musik ihrer Wahl. In seinem Ballett „Wohin er auch blickt…“ (der Titel könnte auch von Spoerli und Angela Dauber stammen) zu Ravels Klavierkonzert für die linke Hand, umrahmt von den beiden kürzeren Orchesterpiecen „Une barque sur l‘océan“ und „Pavane pour une infante défunte“, von Tina Kitzing zwischen mehreren beweglichen Lichtpaneelen angesiedelt, die (wie bei rosalie) selbst Teil der Choreografie werden, geht Mannes auf die bedrohliche Kriegs- und Todesthematik der Musik von Ravel ein, choreografiert in großen, aufschäumenden Gruppen-Tableaux und solistischen Ensembles. Das mutet wie ein Fernecho der Katastrophen des Ersten Weltkriegs an (in dem der Pianist Paul Wittgenstein seinen rechten Arm verlor) – und erinnert ein bisschen an Strawinskys „Sinfonie in drei Sätzen“.

Das Ergebnis ist eine Ballade à la memoire d‘Antony Tudor (und seiner „Dark Elegies“), mit markant herausmodellierten Soli für Daria Sukhorukova, Séverine Ferrolier und Ekaterina Petina sowie Tigran Mikayelyan und Lukáš Slavický. Nur mit dem Nachspiel der „Pavane“ kann ich mich nicht befreunden – zu markant ist dieses Stück durch die Version von Kurt Jooss geprägt und will so gar nicht zu der solistischen Interpretation von Mannes im Martha Grahamschen Antiken-Heroinen-Stil passen.

Ganz anders Kohler, der seine von Jordi Roig ausgestattete Version von „Daphnis und Chloé“ mit zahlreichen Reminiszenzen an Bakst, Nijinsky und die Ballets Russes von Diaghilew strukturiert. Ein dramaturgischer Choreograf, baut er seine Arrangements für Soli und massive Gruppen in enger Übereinstimmung mit der Musik auf, so dass man in der Gestalt des Pan von Wlademir Faccioni die Flötentöne direkt aus seinen Motionen zu hören meint. Vernachlässigt darüber aber die Charakterprofilierung der Kontrastgestalten von Lykanion (Roberta Fernandes) und Briaxis (Mikayelyan) – sehr im Gegensatz zur liebevollen Führung der beiden Protagonisten Karen Azatyan (Daphnis) und Mai Kono (Chloé), mit denen er ein antikes Pastoraldrama à la „Frühlings Erwachen“ exemplifiziert, aber nicht von Wedekind, sondern von Longos. Bei aller sinnlichen Verführungskraft, die Musik und Choreografie in gleicher Weise ausstrahlen, wird man sich doch sehr der Längen in Ravels „Symphonie chorégraphie“ bewusst.

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