So gut wie nie

William Forsythes „Artifact“ eröffnet die Münchner Ballettfestwochen

München, 27/04/2010

William Forsythes „Artifact“ - ja! Im Bereich zeitgenössisches Ballett ist es das Beste, was Ivan Liška seit seinem Amtsantritt 1998 für sein Bayerisches Staatsballett erworben hat. Ein frühes Stück von 1984, also aus dem ersten Jahr von Forsythes Frankfurter Ballett-Intendanz, in dem sich schon alle Ansätze zu einer Erneuerung des neoklassischen Balletts finden - aber noch gemäßigt genug, um das Münchner (Opern-)Publikum nicht zu verschrecken (eine der jüngeren radikal experimentellen Arbeiten des nie rastenden Form-Erforschers Forsythe wäre auf der Nationaltheater-Bühne fehl am Platze). Am Ende denn auch einhelliger Jubel und ein strahlender Forsythe. Dieses abendfüllende Werk, das er mit seiner kleinen, 2005 gegründeten Forsythe Dance Company nicht mehr aufführen kann, weiß er jetzt in guten Händen.

Liškas Tänzer sind seit 1998 durch den 2. Akt von „Artifact“, durch „The Second Detail“ und „Limb's Theorem“ schon auf Forsythes auch für die Frauen viril sportliche Neoklassik der 80er Jahre eingestimmt. Aber jetzt in dem kompletten vierteiligen „Artifact“ waren sie so gut wie nie, und das trotz der forsytheschen Dreifachbelastung: zweihundertprozentige persönliche Präsenz, Hyperkrafteinsatz und Hyperpräzision. Bei all dieser geballten Körperlichkeit - und das überrascht auch den, der das Stück kennt - behält es sein Geheimnis. Dieses surreale Tanzgebilde, für das Forsythe übrigens auch Text, Kostüme und Licht entworfen hat, wird man nie ganz enträtseln. Aber gerade das macht auch seine Faszination aus.

Zu Beginn absolute Stille, kaum Licht. Und da schreitet eine grauweiße Gestalt diagonal über die Bühne, traumwandlerisch langsam. Es ist die absolute Schönheit des Schreitens, die nur Tänzer erreichen können. Und zumindest daran kann man sich gleich festhalten, dass Forsythe, der Intellektuelle, immer noch der ästhetischen Sinnlichkeit des balletttrainierten Körpers huldigt. Auch wenn er die Formen des Balletts verändert, dekonstruiert, neu zusammensetzt - also neu erfindet. Aus den klassisch-romantischen Ports de bras sind bei dieser schreitenden Figur große klar konturierte, auch verwinkelte Armführungen geworden, mit denen sie als Spielmacherin im weiteren Verlauf das Ensemble immer wieder dirigiert. Verkörpert sie das zukünftige Ballett? Könnte so sein, aber vielleicht auch nicht.

Alles hier deutet auf etwas - und lässt es dann in der Schwebe. Wer, was ist diese Frau im barocken Kostüm? Ein Zitat aus einem höfischen Ballett? Eine zänkische Ehefrau, die sich mit ihrem über Megaphon sprechenden Partner in die Haare gerät? Aber gleichzeitig auch eine dadaistische Sprachmaschine, die aus den Verben „denken“, „sehen“, „hören“, „erinnern“, „vergessen“ immer neue, meist sich inhaltlich widersprechende Sätze formt. In ihrer semantischen Absurdität lassen diese Wort-Kombinationen letztlich erahnen, dass wir nicht sehen, was wir zu sehen meinen. Was also will uns William Forsythe hier erzählen? Sicherlich keine Geschichte, aber etwas über Ballett an sich - vor allem darüber, wie es sich bei ihm verändert hat. Es gibt, wie im klassischen „Schwanensee“, in „Artifact“ noch vier Akte - die allerdings kein süffiges Konsumieren erlauben. In Forsythes schattigem Tanz-Kosmos verschwimmt, verwischt auch mal das tänzerische Geschehen. Und das Auge muss sich anstrengen, diese oder jene im Dunkel kreisende Bewegung auszumachen - und lernt zugleich, welche Magie diese optische Verweigerung auslöst, ähnlich dem „clair obscur“ in der Malerei. Und ja, es stört (zunächst), wenn diese exaltierte Barock-Lady und ihr Megaphon-Partner laut disputierend durch die Tanzformationen hindurchwandern. Bis man schließlich diese Dialoge als selbstverständlich dazugehörige Klangtextur in das eigene Sinnenerlebnis integriert hat.

Irritation auch, wenn im zweiten, einem reinen Tanzteil, mehrmals unvermittelt der Vorhang runtersaust. Natürlich verstößt Forsythe damit gegen die Gesetze der herkömmlichen Theaterwirklichkeit. Aber ihm geht es auch um die Wirklichkeit draußen, die garantiert nicht logisch und harmonisch verläuft. Und es geht ihm gezielt um Verunsicherung und damit um Schärfung der Wahrnehmung. Und schaut man nicht tatsächlich wacher, wenn der wieder hochgehende Vorhang erneut Tanz freigibt? Sublimen Tanz. Bei den beiden Solisten-Paaren - Lisa-Maree Cullum mit Alen Bottaini und Lucia Lacarra mit Tigran Mikayelyan - beginnt Bachs Chaconne in den Körpern zu singen.

Die Chaconne aus Bachs Partita Nr. 2 (Einspielung mit Nathan Milstein) kommt vom Band. Größtenteils hat Forsythe die Bach-Variationen von Eva Crossman-Hecht verwendet, die Margot Kazimirska am Klavier zu unauffällig sanften und dann auch vehement rhythmischen Klangräumen gestaltet, durch die all diese großen und kleinen Tanzformationen hindurchziehen: das Frauen-Corps, wie eine geordnete Schar Flamingos auf Spitze stelzend, die Arme im Unisono-Takt wie sich auffaltende Flügel; eine Sequenz für acht Frauen, für die Forsythe nostalgisch zurückgeht auf den eleganten Stil des großen Neoklassik-Meisters George Balanchine; die beiden Quintette für die Männer, die kniffligste Schritte in Extrem-Tempo aus ihren Körpern explodieren lassen; die großflächigen Ensembles, die in ihrer multiaktionalen, scheinbar chaotischen Agitation trunken machen; die ruhigen „Tanzfelder“, in denen Frauen und Männer nur „tendus“, die kleinen, am Boden geschliffenen Fußbewegungen, ausführen, kombiniert mit auf- und abkreisenden Ports de bras.

Forsythe weiß, dass unsere Spiegelneuronen fasziniert auf synchrone Bewegung reagieren. Und lotet es bis zum letzten aus: Tänzer-Massen bilden immer wieder, die Solisten einrahmend, eine schreitende Phalanx, ein Karree oder Dreieck. Ihre Arme malen dabei in synchronem Takt scharfkantige Muster in die Luft. Hier hat Forsythes seine Erinnerung des traditionellen auf Homogenität gedrillten Corps de ballet umgemünzt zu einer neusachlichen Bewegungs-Architektur. Die Dimensionen des Raumes, des Lichts, die Qualitäten von Sprache, das alles spielt bei Forsythe eine ebenso wichtige Rolle wie der Tanz selbst.

Nach der keifenden Schimpfarie der Barock-Dame von der virtuosen Kate Strong in Teil III gab es ein paar Buhs. Das habe doch nichts mit Ballett zu tun. Also warum denn nicht? Forsythe hat Sprache, ähnlich der Musik, zu einem gleichberechtigten Element des theatralen Ereignisses gemacht. Er hat die herkömmliche Dramaturgie und die neoklassische Sprache aufgebrochen und mit solchen „Regelverstößen“ letztlich die Freiheit für das Ballett erobert, die wir in der modernen Malerei und Musik als normal empfinden. Denn wer buht schon bei einem Picasso oder einem Francis Bacon, bei einem Heiner Goebbels oder einem Wolfgang Rihm?

2., 28. und 31. Mai; 5. Juni, 16. Juli, jeweils 19 Uhr 30. Karten 089/2185 1920. Die Ballettfestwochen präsentieren bis zum 9. 5. noch das dreitägige Gastspiel des Wuppertaler Tanztheaters mit Pina Bauschs „Masurca Fogo“ (28. -30. 4.), zwei verschieden besetzte Terpsichore-Galas (8. und 9. 5.) und verschiedene Repertoire-Ballette.www.bayerisches.staatsballett.de
 

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