Aktuell, authentisch, eigenwillig und dynamisch

Leonore Welzin sprach mit Juliane Rößler in Ludwigshafen über die Wettbewerbe No Ballet und +Phat_Skillz//Dance

Ludwigshafen, 03/11/2011

Redaktion: Frau Rößler, Sie haben mit no ballet und +Phat_Skillz//Dance zwei choreografische Wettbewerbe ins Leben gerufen. No Ballet, der ältere findet seit sechs Jahren in LU am Theater im Pfalzbau statt. Das Logo, ein durchgestrichener Spitzenschuh und das Motto No Ballet hört sich wie eine Kampfansage an den klassischen Tanz an. Wie ist es gemeint?

Juliane Rößler: Auf keinen Fall als Kampfansage! Aber es gibt Ballettomanen, die sich im ersten Moment angegriffen gefühlt haben. Sobald ich jedoch erklärt habe, dass es keine Kampfansage gegen das Ballett ist, sondern ein Plädoyer für den zeitgenössischen Tanz, dies verstanden haben.

Um es mit der Musik zu vergleichen. Es gibt Kompositionswettbewerbe für zeitgenössische Musik, da fragt kein Mensch den Künstlerischen Leiter: Was haben Sie denn gegen die klassische Musik? Mögen Sie etwa Mozart nicht!? Und so, wie ich Mozart oder Beethoven liebe, kann ich mich auch durchaus für ein klassisches Ballett vergangener Zeiten (wie z.B. Schwanensee) begeistern. Aber, wenn ein heutiger Komponist im Rahmen eines Wettbewerbs für Zeitgenössische Musik versuchen würde, im Stile Mozarts zu komponieren, würde er sicherlich keinen Blumentopf gewinnen. Also möchte ich Choreografen dazu motivieren, nicht in einer Ästhetik vergangener Zeiten und mittels eines über 100 Jahre alten und festgefahrenen Schrittmaterials zu choreographieren, sondern auf der Basis einer zeitgemäßen Bewegungssprache.

Redaktion: Man kann den zeitgenössischen Tanz ex negativo erklären, indem man sagt, was er nicht ist, nämlich kein Ballett. Woran kann man den zeitgenössischen Tanz noch erkennen?

Juliane Rößler: Zum Beispiel an der Umsetzung aktueller und zeitgemäßer Themen, an mutigen und vielleicht auch provokanten Inhalten, eben daran, dass sich der Choreograf mit dem Hier und Jetzt auseinandersetzt anstatt mit der Reproduktion altbewährter Märchen- oder Ballettstoffe. Ebenso können es aber auch abstrakte Choreografien sein, die sich durch eine eigenwillige und originelle Bewegungssprache auszeichnen, unverwechselbar und jenseits etablierter Tanztechniken, vielleicht sogar unter der Einbeziehung stilisierter, ganz alltäglicher Bewegungsmuster. Auch eine Auseinandersetzung mit dem Raum bzw. die Nutzung ungewöhnlicher (öffentlicher) Räume ist denkbar – dem zeitgenössischen Tanz sind keinerlei Grenzen gesetzt. Wichtig für mich ist lediglich, dass die Choreografie mich an- oder aufregt, mich mit- und fortreißt, entweder zum Hinsehen und Nachdenken zwingt, oder aber auch zum Lachen oder Weinen bringt. Kurz: mich in irgendeiner Art und Weise berührt, etwas mit mir macht und ich mich vor allem von dem Choreografen als Mensch und Zuschauer des 21. Jahrhunderts ernst genommen fühle.

Redaktion: Wenn dem zeitgenössischen Tanz keinerlei Grenzen gesetzt sind, wo liegt dann die Trennlinie zum anything goes, zur Beliebigkeit?

Juliane Rößler: Ich denke tatsächlich, dass anything goes, solange die Qualität stimmt. Beliebig ist eine Choreografie erst dann, wenn die inhaltliche Dramaturgie, die Musikdramaturgie, die Musikalität, die Bewegungssprache, die Kostüme, die Requisiten, das Bühnenbild etc. nicht in ein schlüssiges Gesamtkonzept gebracht wurden. Dabei müssen die Tänzerinnen und Tänzer adäquat ihren künstlerischen und technischen Fähigkeiten eingesetzt und geführt werden.

Redaktion: Wie setzt sich die Jury zusammen? Wer sind die Juroren?

Juliane Rößler: Die Jury ist eine absolute Besonderheit in der Wettbewerbsszene: sie besteht nicht nur aus Choreografen, sondern auch aus renommierten Intendanten, Regisseuren, Komponisten, Medienkünstlern, Tanzmanagern, Tanzpädagogen und Tanzkritikern. So sind Hansgünther Heyme, Reinhild Hoffmann, Susanne Linke, Kajo Nelles, Klaus Obermaier, Graziella Padilla, Hartmut Regitz, Ralf Rossa, Darrel Toulon und ich selber Garanten für fundierte Bewertungskriterien, die von ganz unterschiedlichen Standpunkten aus angelegt werden.

Redaktion: Gibt es einen Katalog der Bewertungskriterien?

Juliane Rößler: Das künstlerische Konzept impliziert die Kriterien: Im Gegensatz zu anderen Wettbewerben zeichnet sich no ballet durch ein klares, eng umrissenes Konzept aus. Es werden ausschließlich zeitgenössische Choreografien mit einer eigenen, individuellen Bewegungssprache eingeladen. Das konzeptionelle Motto „no ballet“ sowie das künstlerische Credo „reduce to the max“ des Wettbewerbs sollen die Choreografen verleiten, ja, vielleicht sogar zwingen, sich in der von Reizen überfluteten Welt auf das Wesentliche zu konzentrieren.

Angestrebt wird eine unverwechselbare Tanz- und Bewegungssprache jenseits des herkömmlichen Bewegungsrepertoires, und ohne den Beistand aufwändiger Bühnenbilder, Requisiten, Kostüme und Lichteffekte. Tanz pur. Mutiger Inhalt und eigenwillige Bewegungen stehen allemal über hausbackener Form und virtuoser Technik als Selbstzweck. Folglich stehen nicht technische Bravourleistungen der Tänzerinnen und Tänzer im Vordergrund der Beurteilung, sondern die dynamische, authentische Unmittelbarkeit der Choreografie und deren Originalität.

Redaktion: Was war Anlass für den Wettbewerb und weshalb in Ludwigshafen?

Juliane Rößler: Ich war selber früher bei etlichen Wettbewerben als Choreografin nominiert, kam auch jedes Mal ins Finale und habe diverse Preise erhalten – insofern kann ich mich also nicht beklagen. Was mich immer gestört hat: es wurden Äpfel mit Birnen verglichen. Ich erinnere mich an einen Beitrag in Tutu und Spitzenschuh, auf den ein völlig verrücktes, schräges, experimentelles Tanztheater folgte. Derartige Extreme kann man einfach nicht vergleichen – ebenso wenig wie ein klassisches Klavierkonzert mit einem Jazz- Solo am Saxofon. So reifte die Idee, einen Wettbewerb ins Leben zu rufen, der nicht beliebig alle möglichen Stilrichtungen zulässt, sondern ein klares Konzept hat.

Daraus entstand no ballet, ein Wettbewerb ausschließlich für zeitgenössische Choreografen, die sich in der Wahl der Themen ebenso wie in der Bewegungssprache auf die Wirklichkeit einlassen. Übrigens richtet sich no ballet an alle Altersgruppen, ist also kein Nachwuchswettbewerb!

Redaktion: Gibt’s es dafür Beispiele?

Juliane Rößler: Die jüngste Teilnehmerin war 20 Jahre, der älteste, ein Japaner 68 Jahre. Wir hätten seine Produktion gern nominiert, es gab aber Verständigungsschwierigkeiten, er hat nicht verstanden, dass wir nur Beiträge von 15-Minuten zeigen können. Er bestand auf einem einstündigen Stück, so mussten wir leider darauf verzichten.

Redaktion: Und wieso der Pfalzbau in Ludwigshafen?

Juliane Rößler: Ich suchte ein Theater bzw. einen Intendanten, der den Mut hat, etwas Neues zu wagen und gemeinsam mit mir diesen Wettbewerb auszurichten. Und da das Theater im Pfalzbau ein hervorragendes Tanz-Gastspielprogramm mit zeitgenössischem Schwerpunkt hat und Hansgünther Heyme ein Intendant ist, der etwas bewegen kann, habe ich ihm vor sieben Jahren meine Idee und mein Konzept vorgestellt – und voilà, no ballet findet nun bereits zum sechsten Mal statt!

Redaktion:  Wie sieht die Bilanz nach fünf Jahren aus?

Juliane Rößler: Wir hatten insgesamt 1300 Bewerbungen aus 53 Nationen. In jedem Jahr nominieren wir 18 Stücke, die maximal 15 Minuten dauern dürfen. Manche kreieren einen Beitrag eigens für den Wettbewerb, andere zeigen einen Ausschnitt oder ein Stück ihres Repertoires. Auffallend ist, dass die meisten Bewerbungen aus einem so kleinen Land wie Israel kommen. Der zeitgenössische Tanz wird dort stark gefördert, die Gruppen werden von staatlicher Seite unterstützt, der Flug bezahlt. Das ist häufig nicht der Fall, die Nominierten müssen ihre Fahrtkosten selbst bestreiten, umso mehr haben wir uns im letzten Jahr über sieben Bewerbungen aus Afrika gefreut.

Gut vertreten sind im Schnitt auch Asien und Südamerika. Trotz des Logos mit dem durchgestrichenen Spitzenschuh gibt es durchaus Bewerber, die mit Spitzenschuh tanzen, wie beispielsweise ein asiatisch–spanisches Duo. Teils reisen die Tänzerinnen und Tänzer mit Musikern an, mit denen sie interagieren. Purer Tanz und viel Spartenübergreifendes mit Einflüssen aus Schauspiel, Lyrik, Materialtheater, Artistik, Zirkus. In diesem Jahr gibt es einen Beitrag, der sich „Wettbewerb“ nennt, da tritt Flamenco gegen Stepptanz an.

Redaktion: Im zweiten Wettbewerb, dem +Phat_Skillz//Dance, treten HipHoper und Breaker an. Da ist die Idee sich zu batteln (von engl: battle = Kampf, Wettstreit), also gegeneinander anzutreten immanent.

Juliane Rößler: Ja, +Phat_Skillz//Dance ist mit no ballet nicht zu vergleichen, HipHop, breaken etc. ist ein Lebensgefühl. In no ballet zeigen wir Produktionen von den Bühnen der Welt, in +Phat_Skillz//Dance treten Tänzer der Straßen der Welt an. Bei der Abschlussparty treffen beide aufeinander, als das zum ersten Mal passierte, war das eine echte Welttanzfete.

Jährlich bekommen wir 80 bis hundert Bewerbungen, aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, aber auch aus Frankreich und, in diesem Jahr erstmals, aus Ungarn. Ausgewählt wurden 14 Acts. Wir wollen zeigen, was die Jugendlichen bewegt. Oft findet man in einer zehnköpfigen Truppe zehn Nationen, der Tanz ist ein Beispiel geglückter Integration. Die Auftritte sind wesentlich kürzer, zwischen drei und fünf Minuten. Erstaunlich, was man da rein packen kann – oft erzählen die mehr als manches Tanztheater in zwei Stunden. Wir wollten mit diesem Wettbewerb Wege und Türen zur anerkannten Kultur öffnen. Zwar sind 90 Prozent Szenepublikum vom Schlag: Voll krass Alter, die sonst nicht ins Theater gehen. Aber zehn Prozent sind das so genannte konservative Theaterpublikum. Auf der Bühne bekommen die Straßentänzerinnen und -tänzer, was ihnen in erschreckender Weise fehlt: Anerkennung. Genau das bedeutet letztlich aber Integration.

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