Ein überfälliges Thema
Dokumentarfilm „Becoming Giulia“ läuft ab 18. Januar in den Kinos
Hellerau, das war vor hundert Jahren, zur Zeit der Gründung der Bildungsanstalt Jacques-Dalcroze, die andere Schmiede des modernen Tanzes (die eine waren die zwei Jahre zuvor ins Leben gerufenen Ballets Russes von Diaghilew in Paris). Und ihre Markenzeichen-Produktion war die auf der Reformbühne von Adolphe Appia inszenierte „Orrpheus und Euryike“-Oper von Christoph Willibald Gluck. Hier traf sich Europas künstlerische Avantgarde – hierher brachte Diaghilew seinen Schützling Vaslav Nijinsky, damit er sich von Myriam Ramberg, der späteren Mary Rambert, die komplizierten Rhythmen der geplanten Uraufführung von Strawinskys „Sacre du printemps“ sortieren ließ.
Hundert Jahre später präsentiert die Staatsoper Stuttgart unter der neuen Leitung von Jossi Wieler (und seinem Vize Serge Morabito) die Wiederaufnahme von Christian Spucks „Orphée et Euridice“, die vor zwei Jahren als Koproduktion der Staatsoper Stuttgart und des Stuttgarter Balletts als Crossover-Unternehmung für einiges Aufsehen gesorgt hatte (siehe das koeglerjournal vom 27. Juni 2009) – nicht die Wiener Uraufführungsversion von 1762 als ‚Azione teatrale per musica‘, sondern in der Pariser Bearbeitung von 1774 als ‚Tragédie-opéra en trois actes‘, das heißt als Oper mit großem Ballett. Aus dem auf die drei Personen, Orfeo, Euridice und Amore samt Chor beschränkten Wiener Personenaufgebot war in Stuttgart eine mit vier Sängersolisten, Orphée, der doppelt besetzten Euridice und L‘Amour-Suite nebst einer ganzen Heerschar von Tänzern (vier Solopaare, fünf nackige Boys, und ein mit vier plus vier Tänzerinnen und Tänzern besetztem Corps de Ballet) geworden.
Die Stuttgarter Aufführung rief ein geteiltes Echo hervor – Puristen der alten Schule, erzogen im Hellerau-Geist der Appia und Dalcroze, fanden die reichlichen ballettösen Garnierungen herzlich entbehrlich und flüchteten sich zu Hause zu der strengeren Wuppertaler Pina Bausch-DVD-Version von 1975. Nun also die Wiederaufnahme in etwas geänderter Besetzung, aber mit dem gleichen opulenten Morabito-Programmheft von 2009 – entschieden das wertbeständigste Dokument jener Aufführung (die erste ‚reguläre‘ Premiere des Stuttgarter Balletts in der neuen Spielzeit ist nach diversen Wiederaufnahmen erst für den 10. Februar angekündigt – da wird sich Christian Spuck in Zürich tüchtig sputen müssen, wenn er sich an die Spoerlischen Premierenvorgaben halten will).
Die Überraschung des Abends: die Produktion hat entschieden an theatralischer Force gewonnen – nimmt sich gegenüber dem Hamburger Neumeier-„Orpheus“ von vor vierzehn Tagen in Baden-Baden ausgesprochen dramatisch zugespitzt aus. Gegenüber dem faden Roberto Bolle wirkt der Brasilianer Luciano Botelho – ein furchtloser Stratosphären-Tenor – wie ein durch die Schule des Expressionismus gegangener Leidender aus, ein fabelhaft intensiver Darsteller und Sänger, und auch der Dirigent Nicholas Kok und das Orchester haben entschieden an furiosem Elan zugelegt. Die Suite de l‘Amour wird jetzt von William Moore angeführt, auch er ein Espressivo, so leidenschaftlich engagiert, dass man fast sein kitschiges Glitzerkostüm (von Emma Ryott) darüber vergessen kann, die sich für das finale Divertissement wieder ihre beliebten Zuckertüten-Karnevalshütchen ausgedacht hat). Morabitos dramaturgisches Konzept ist intellektuell reichlich überfrachtet (die überflüssige Vervielfachung von Euridice) und zwingt Spuck zu ständigem Herumgefuchtel mit Stühlen und waghalsigen Kletterpartien samt Luftakrobatismen, aber der Gewinner ist eindeutig Gluck, seine Musik in all ihrer Herrlichkeit und Fülle. Es wird hervorragend gesungen und getanzt – und das Beste: ein volles Haus mit vielen jungen, hingerissenen Besuchern.
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