Zukunfts-Gestalter
Vertragsverlängerungen bei der Bayerischen Staatsoper und beim Bayerischen Staatsballett
Bei der Performance „Living Room Dancers“ werden Hobby-Tänzer ausgestellt
„Um fünf Uhr morgens sind die Partys in meiner Heimatstadt Augsburg zu Ende. Das geht gar nicht“, fand Sophie. Die Erzieherin tat sich mit Freunden und Bekannten zusammen, um Electro-Partys zu organisieren, die den Hahnenschrei überdauern. Ziemlich gefragt scheint das Team inzwischen zu sein. Sophie geht es dabei vor allem ums Tanzen. In der richtigen Stimmung, mit guter Musik und gutem Dekor macht es natürlich noch mehr Spaß als im eigenen Wohnzimmer. Im Mai war Sophie dann in München bei der Audition für das Projekt „Living Room Dancers“ von der welsch-schweizerischen Choreografin Nicole Seiler. Plötzlich hing sie in einem sehr kleinen und sehr hässlichen Probenraum des Bayerischen Staatsballetts wie ein unerreichbarer Stern im Elektrohimmel, umhüllt von Zebra-Pluderleggins und Häkeljäckchen, um die Augen Glitzerstaub.
Die Choreografin nickte merklich: So jemand wie Sophie – das geht in die richtige Richtung. Für die „Living Room Dancers“ werden Menschen gesucht, für die das Tanzen zum Leben gehört, die sich ganz in Tanz verwandeln können, ohne dass sie damit unbedingt professionelle Ziele verfolgen. „Ein gelungener Tanzabend ist für mich wie zwei Wochen Urlaub“, sagt ein Teilnehmer im projektbegleitenden Filmclip, in dem die Hobbytänzer gefragt werden, warum ihnen der Tanz so wichtig ist. Meistens suchen sie einen präzisen Ausdruck für all die Gefühle, für die ihnen die Worte fehlen.
In zehn Städten war das Projekt bereits unterwegs, darunter Barcelona, Warschau, Lugano. Der Begleitfilm vom ersten Projekt tourt auch ohne Tänzer. Gerade war er in Bangalore. Nun fand das gesamte Projekt im Rahmen der unter Intendant Nikolaus Bachler recht unternehmungslustigen Opernfestspiele in München statt. Wie üblich wurden die Wohnzimmertänzer dann für zwei Abende in angemietete Wohnungen im inneren Cityring gesteckt, wo sie am späten Abend jeweils für eineinhalb Stunden in erleuchteten Fenstern selbstvergessen tanzen sollen. Ein sommerlicher Adventskalender für Tanzvoyeuristen, die, ausgestattet mit Straßenkarte und Opernglas, von draußen zuschauen dürfen.
Aus drei Auditiontagen wurden 12 Tänzer(-Paare) ausgewählt. Sophie ist dann doch nicht dabei. Dafür aber Aaron und Bich, ihre zwei Konkurrenten, mit denen sie im selben Block vortanzte. Der eine macht HipHop, die andere orientalischen Tanz. Er: 24-jähriger Student mit starkem, schwarzafrikanischem Körper, der tanzt, um fröhlich zu sein. Sie: Asiatische Hausfrau im Rentenalter, die darum bittet, die erste beim Vortanzen zu sein, weil ihr Mann zu Hause warte. Am Voyeuristen-Abend trägt sie dasselbe Bauchtanz-Kleidchen: rosa Tüll. Im Fenster des zweiten Stocks sieht man nur ihren Oberkörper. Die durchgeschüttelten Hüften darunter sind unsichtbar, aber man ahnt sie, wenn das Zittern wie ein Wölkchen durch die schmale Tänzerin aufsteigt.
In anderen Fenstern wird Tango, Rock’n’Roll, Salsa und Pole-Dance geboten. Ganz oben in einem Haus am Max-Joseph-Platz sieht es aus, als wolle die Kunststudentin Kathrin tanzend Scheiben wischen, immer wieder zieht sie den imaginären Vorhang vor ihrem Gesicht mit beeindruckend stilisierten Bewegungen weg. Unten steht trotzdem kaum jemand. Außer den 92 registrierten Voyeuristen sind nur noch wenige unterwegs. Wer nicht im Club ist, legt in München um halb elf Uhr abends gerade seine Garderobe für den nächsten Tag zurecht. Ein Opern-Outfit-verdächtiges Ehepaar bleibt kurz stehen: „Die tanzen.“ Schade, dass die Audition so viel mehr zu bieten hat als das eigentliche Geschehen. Bei all dem Tanz- und Aufregungsschweiß, den kleinen Peinlichkeiten und verschmitzten Geschichten kommt der Reality-Fan da voll auf seine Kosten und lernt zudem noch jede Menge über Tanz und Menschen. Und wie es einen Drehbuchautorinnenkörper verändern kann, wenn plötzlich Sufi-Musik durch ihn fließt. In dem kleinen hässlichen Probenraum dreht sich durch jeden Tanz der Globus ein Stückchen weiter. Jedes Mal erscheint in den Bewegungen ein neues Alphabet der Gefühle.
Und die humoristisch begabte Natascha erzählt, wie sie von ihrer argentinischen Mutter immer erst einen Kakao bekam, nachdem sie einen Tango mit ihr getanzt hatte. So eine Tanz-Tigermutter! Dagegen sind am Performanceabend die Schau-Fenster von den 3000-Euro-Innenstadtwohnungen ziemlich isoliert und schweigsam – vielleicht auch einfach ein bisschen zu diskret.
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