John Neumeiers „Purgatorio“: Lloyd Riggins, Hélène Bouchet und Ensemble

 John Neumeiers „Purgatorio“: Lloyd Riggins, Hélène Bouchet und Ensemble

Weiter auf dem Weg der Mahler-Komplettierung

John Neumeier choreografiert Gustavs Zehnte mit Almas Liedern als Beipack

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Hamburg, 03/07/2011

Wenn ich richtig gezählt habe, ist John Neumeier mit seiner jüngsten Kreation, dem Ballett „Purgatorio“ zu Gustav Mahlers Zehnter Sinfonie samt einer Auswahl von Liedern seiner Gattin Alma in seiner Auseinandersetzung mit dem kompositorischen Oeuvre von Mahler bei seinem Opus 14 angelangt. Begonnen hat er seine tänzerischen Mahler-Overview 1970 in Frankfurt mit dem als „Rondo“ überschriebenen Satz „Ich bin der Welt abhanden gekommen“, der als Motto auch über seiner monumentalen Mahler-Retrospektive stehen könnte, die einmalig in der der gesamten Ballettgeschichte ist – und zwar in doppelter Hinsicht: bei Mahler mit Bezug auf sein kompositorisches Schaffen wie bei Neumeier auf seinen choreografischen Katalog. Beide scheinen sie in ihrer fokussierten Konzentration auf ihre Arbeit dem normalen Leben weitgehend verlorengegangen zu sein. Mahler hat seine Zehnte nicht mehr vollenden können, und so sind seine fünf Sätze Fragment geblieben, die der Engländer Deryck Cooke zu einer Konzertfassung ergänzt hat. Neumeier fehlen zur Vervollständigung seiner Obsession nur die zweite und die achte Sinfonie, und letztere kann man sich gut vorstellen als krönendes Finale seines Lebenswerks (etwa während einer seiner alljährlichen Residenz in seiner Baden-Baden-Dependance) – er hat dem seit den dreißiger Jahren kursierenden Begriff des „Sinfonischen Balletts“ eine tiefere Dimension gegeben.

Was nun das „Purgatorio“ angeht, so bezieht es sich auf den von Mahler so benannten dritten Satz der Zehnten, das „Fegefeuer“ als zweite Station der Danteschen „Göttlichen Komödie“. Er bezieht sich auf das Fegefeuer seines Verhältnisses zu seiner Frau Alma, deren Ehebruch mit dem wesentlich jüngeren Architekten Walter Gropius ihn während der Arbeit an der Sinfonie wie ein Blitz getroffen hatte. Der dramatische Konflikt dieser Ehekrise bildet den Hintergrund der Dramaturgie des Balletts und wird in dem exzellent aufgemachten Programmbuch der 37. Hamburger Ballett-Tage ausführlich aufgearbeitet. Annette Bopp hat das Ballett in ihrer Kritik „Landschaften zweier Seelen“ vom 27. Juni so exakt analysiert und beschrieben, dass der Leser sich ein genaues Bild davon machen kann, so dass ich glaube, mir hier eine Wiederholung ihrer imponierenden Reflexionen ersparen zu können.

Auf jeden Fall handelt es sich bei diesem zweiteiligen, mit ausgedehnter Pause nahezu zweieinhalbstündigen Ballett um einen musikalisch-dramaturgisch-choreografischen Geniestreich, der wie ein erratischer Fels in der Ballett-Landschaft unserer Tage ragt – auch wenn man unter der Überfülle der Konnexionen stöhnt, die man bei einmaligen Sehen unmöglich auch nur andeutungsweise entschlüsseln kann. So hält man sich denn an das von den Hamburger Philharmonikern unter ihrer Chefin Simone Young kristallinisch dargebotene Klanggeschehen und an die tief bewegenden darstellerischen Leistungen der Hamburger Tänzer – allen voran Lloyd Riggins als Mahler, Hélène Bouchet als Alma, Thiago Bordin als Gropius, Alexandre Riabko als Creator Spiritus und Anna Polikarpova als Die Mutter sowie in weiteren Solopartien an Joëlle Boulogne und Carsten Jung, an Anna Laudere und Edvin Revazov nebst den reich besetzten Ensembles und bestaunt einmal mehr die Kompanie-Identität, die das Hamburger Ballett in den nunmehr 38 Jahren der Ära Neumeier entwickelt hat, so dass es zusammen mit Stuttgart und München die Ivy-League der deutschen Opernballettkompanien bildet, die auf höchster Ebene international konkurrenzfähig sind – im Falle Hamburgs noch dazu geprägt durch die choreografische Handschrift Neumeiers, wie es zuletzt beim New York City Ballett war, solange George Balanchine dort das Zepter führte.

Dies durchaus anerkennend, muss ich doch bekennen, dass mich der Abend nicht annähernd so glücklich gemacht hat wie die Vorstellung mit dem „Sommernachtstraum“ 24 Stunden zuvor. Ich hätte mir gewünscht, dass Neumeier sein „Purgatorio“ auf den halbstündigen, komplett vorliegenden ersten Satz, das Adagio, konzentriert hätte, das durchaus ausgereicht hätte, den Grundkonflikt dieser Dreier-Beziehung psychologisch-choreografisch zu hinterfragen (wie es Antony Tudor in einem ganz anderen inhaltlichen Zusammenhang in „Lilac Garden“ getan hat). So habe ich den Eindruck, dass in dem vorangestellten Prolog mit den von Charlotte Margiono leider ziemlich unverständlich artikulierten Liedern von Alma und der fast anderthalbstündigen Sinfonie Neumeier sich gezwungen sah, viel musikalische Zeit mit herzlich entbehrlichen tänzerischen Episoden und Gestalten zu füllen, die als tänzerische Hochleistungsartistik zwar durchweg faszinierend anzusehen sind, im Grunde aber lediglich der dekorativen Ausschmückung dienen, ohne doch eine substanzielle Integrität zu bieten wie die besten der Neumeier-Arbeiten à la „Kameliendame“, „Endstation Sehnsucht“, „Sommernachtstraum“. „Illusionen wie Schwanensee“, seine dritte Mahler-Sinfonie, seine „Möwe“, sein „Nijinsky“ und seine „Kleine Meerjungfrau“. Und welch anderer Choreograf der Ballettgeschichte außer Balanchine hat dem Weltrepertoire des Balletts eine solche Fülle von hochkarätigen Meisterwerken beigesteuert?

 

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