Zwischen Gleiten und Vollgas
„Ausland“ von Jefta van Dinther und „Skatepark“ von Mette Ingvartsen beim Tanz im August
„Political Mother (choreographer's cut)” von Hofesh Shechter im Haus der Berliner Festspiele
Wo choreografisches Können und Ideenreichtum alleine nicht ausreichen, wird im zeitgenössischen Tanz immer wieder gerne die musikalische Überwältigungsmaschine angeworfen. Wer nicht das Geld für eine brachiale Rockband auf der Bühne hat, kann zur Not immer noch den ein oder anderen RAMMSTEIN-Titel einspielen, um selbst dem fadenscheinigsten Bewegungsmaterial noch Intensität einzuhauchen.
Der israelisch-britische Choreograf Hofesh Shechter vollbringt in seinem Stück „Political Mother (choreographer's cut)” das umgekehrte Kunststück. Mit einem gewaltigen Klangkörper aus Streichern, Trommlern und einer extrem lauten Hardcore-Punkband und 15 Tänzern schafft er einen Abend, der dennoch intelligent, unprätentiös und voll von leisem Humor ist.
Trommeln donnern, Streicher werfen melancholische Phrasen osteuropäischen oder orientalischen Ursprungs ein, und immer wieder tritt ein Diktator im weißen Hemd auf und geifert unverständliche Phrasen in ein Mikrofon. Von den Rhythmen voran gepeitscht, werden die Tänzer alsbald zu willigen Gefolgsleuten, hilflosen Opfern und ziellos Besessenen. Shechters Bewegungssprache vermeidet allzu deutliche Zuschreibungen: Hände kneten, Füße stampfen erdenschwer, Arme werden seitwärts geschleudert – und stets wohnt auch der aggressivsten Geste ihr Gegenteil inne, ist dem Angriff auch immer die Abwehr und die Verletzlichkeit eingeschrieben.
Im Gegensatz zu anderen Kollegen, die Musik lediglich benutzen, ist Shechter auch ausgebildeter Schlagzeuger und komponiert die treibenden Klangwände seiner Stücke selbst. Sogar in den brachialsten Momenten verliert der Soundtrack niemals seine Seele, stets bleibt auch die Aggression organisch. Während andere zu Musik choreografieren, verbinden sich bei ihm Musik und Tanz zu einem choreografischen Ganzen.
„Political Mother” ist auf den ersten Blick ein Stück über manipulative Mechanismen. Manipulation durch Musik, durch Ideologie und sogar durch Bewegung. Gleichzeitig legt der Choreograf all diese Mechanismen offen, zeigt wie sie hergestellt werden, und versucht nie, seinem Publikum vorgefertigte Reaktionen aufzunötigen.
Eigentlich jedoch handelt es sich bei der Arbeit – und das legt der Titel „choregrapher's cut” nahe – vor allem um das begeisterte Spiel eines jungen Mannes mit den Möglichkeiten der Theatermaschinerie. Shechter, der sich in wenigen Jahren zu einem Superstar der britischen Tanzszene hochgearbeitet hat, beherrscht die Klaviatur des Spektakels virtuos und setzt sie angenehm unzynisch ein. Immer wieder scheint es, als hätte er selbst am meisten Spaß an den Effekten seines Stückes. Vielleicht hat er aus diesem Grunde selbstironisch höchstpersönlich die Rolle des Diktators übernommen, der das Geschehen immer wieder wie ein größenwahnsinniger Regisseur durch chaplineskes Gebrüll an sich reißt. Im Grunde ist „political mother” weitaus stärker vom Kino beeinflusst als vom zeitgenössischen Tanz. Immer wieder schneidet der Choreograf kurze Szenen aneinander, blendet aus, lässt Bilder einfrieren – und zeigt am Ende gar die gesamte Choreografie noch einmal rückwärts im Schnelldurchlauf.
Besonders faszinierend an Shechters Arbeit ist ihre Eigenständigkeit. Obwohl man spürt, dass der Choreograf stark von Ohad Naharins extrem physischer Gaga-Technik geprägt ist, die er selbst als jahrelanges Mitglied in der Bathsheva-Company verinnerlicht hat, entwickelt er daraus etwas Neues, Unabhängiges. Im Gegensatz beispielsweise zu Sasha Waltz, deren großartig komponierte Gruppenbilder immer auch etwas kunstgewerblich Arrangiertes haben, wirken Shechters Szenerien einfach, treffend und auf gewisse Art und Weise „wahr”. Das Bewegungsmaterial, das die Tänzer mal sanft, mal martialisch umsetzen, scheint auf elementaren Gesten aufzubauen. Bei vielen Handdrehungen oder Schwüngen mit dem Oberkörper muss der Zuschauer unwillkürlich an die Gesten von Bauern bei der Feldarbeit denken. In vielen Bildern ist auch eine archaische Strenge und Ernsthaftigkeit spürbar, die sich heutzutage viele Kollegen gar nicht mehr trauen.
In seiner rückhaltlosen Körperlichkeit, seinem reflektierten Umgang mit den eigenen Mitteln und der Leichtigkeit, mit der hier ein riesenhafter Theaterapparat bewegt wird, ragt „Political Mother” meilenweit aus der gegenwärtigen choreografischen Dutzendware heraus. Vor wenigen Wochen hatte in Londoner Barbican „Survivor” Premiere, Shechters Zusammenarbeit mit dem Bildhauer Antony Gormley, für die der Exil-Israeli die Musik komponiert hatte. Doch auch auf seine nächsten choreografischen Arbeiten darf man gespannt sein.
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