Goecke geht nach Hannover
Der neue Ballettdirektor am STAATSTHEATER HANNOVER steht fest. Marco Goecke übernimmt zur Spielzeit 2019/20 die Leitung.
„Gefährlichen Liebschaften“ von Jörg Mannes zu Gast am Theater Heilbronn
Anders als bei der zeitgleich laufenden Fußball-Tragödie Deutschland-Italien, bricht nach knapp zwei Stunden im fast ausverkauften Großen Haus des Heilbronner Theaters Jubel aus für „Gefährlichen Liebschaften“. Jörg Mannes‘ Tanz-Adaption des gleichnamigen Romans von Choderlos de Laclos aus dem Jahr 1782 ist der dritte Vorstoß des Choreografen, aus den 175 Briefen ein Handlungsballett zu zaubern.
Der Autor, Choderlos de Laclos, dessen Familie erst kurz vor seiner Geburt in den Adelsstand erhoben wurde, hält der Hofgesellschaft den Spiegel vor. Er kritisiert insbesondere den Hoch- und Hofadel, personifiziert durch die Marquise de Merteuil (Cássia Lopez) und den Vicomte de Valmont (Denis Piza), die − vom Dasein gelangweilt − mit den Gefühlen anderer spielen. Ehre, Unschuld und Moral sind lästige Hürden. Gekränkte Eitelkeit sucht Revanche und Satisfaktion im Duell. Intrigen haben Hochkonjunktur: Der Vicomte nimmt die Herausforderung der Marquise an, die tugendhafte Schönheit Madame Marie de Trouvel (Karine Seneca) zu seiner Geliebten zu machen und die unschuldige Cécile de Volanges (Catherine Franco) noch vor ihrer Hochzeit zu verführen. Die Gesellschaft duldet alles, solange die Fassade der Anständigkeit gewahrt wird. Sie applaudiert denen, die mit Raffinesse die Moral mit Füßen tritt und verschmäht jene, die es wagen, ehrlich zu ihren Gefühlen zu bekennen und damit der Lächerlichkeit Preis zu geben.
Die literarische Vorlage, in der die Fäden einer erotisch aufgeladenen Intrige nicht nur gesponnen, sondern aus jeweils wechselnder Perspektive wiedergegeben und ausgekostet werden „beruht so stark auf dem Wort, dass die Unternehmung einer Tanz-Adaption geradezu abenteuerlich erscheinen muss“ schreibt die Tanzkritikerin Angela Reinhardt 2004, nachdem sie in Karlsruhe Jörg Mannes zweiten Versuch gesehen hat, dem Stoff eine Choreografie abzuringen (ein erster war 2002 in Bremerhaven voraus gegangen). Reinhardt fragt folgerichtig, welchen anderen Grund es geben sollte, wenn das oft verfilmte und erfolgreich für die Sprechbühne adaptierte Werk keinerlei bekannte Tradition auf der Ballettbühne habe. Was also lässt Mannes so beharrlich am Stoff festhalten, dass er 2010, nun Ballettchef in Hannover, sich das Sujet abermals vornimmt?
Zum einen die Universalität des Themas, sagt Mannes, der das Stück musikalisch im Barock verortet: virtuose Streicher-Eskapaden (Vivaldi) und Gänsehaut-Arien (Händel) bringen Emotionen zum Brodeln. Weit über den epochalen Kontext hinaus tragen die elegant eingefädelten elektronischen Kompositionen des Musikers Mark Polscher, sowie seine Kollagen konkreter Musik, aus Vogelgezwitscher, Hundegebell, galoppierenden Pferden bis zu pulsierenden Bässen, kratzenden Federn auf Papier und kurzen, eingesprochenen Zitaten des französischen Originals.
Die akustischen Landschaften aus Alter und Neuer Musik werden erweitert und kommentiert durch Videoprojektionen (Matthias Fischer-Dieskau und Thilo Nass). Romantische Bildzitate perspektivisch gestaffelt, feudale Interieurs, überdimensionale Schattenbilder und Live-Aufnahmen der Solisten (teils still wie ein Gemälde, teils bewegt wie ein Film) suggerieren Tiefe, Bewegung und Gegenbewegung, irritieren durch Abstraktion oder konfrontieren mit Leere: die Bühne ein weißer Raum, in dem Cécile, die Unschuldige, in die Fechtkunst eingeführt werden soll, woraus sich ein amouröses Duett entwickelt.
Zur plastischen Wirkung dieser surrealen Räume trägt nicht zuletzt die kongeniale Lichtregie von Peter Hörtner bei. Alle Elemente sind in sich stimmig und einander in perfekter Balance verbunden. Schließlich spielt Mannes seine Trumpfkarte aus: ein ambitioniertes Ensemble, das die höfischen Codes mit Süffisanz zelebriert und eine Hand voll Solisten, die nicht nur mit technischer Perfektion brillieren, sondern schauspielerisch souverän den differenzierten Charakteren Kontur geben. Mit seiner dritten Version der „Gefährlichen Liebschaften“ wischt Mannes alle Zweifel an einer tanztauglichen Umsetzung beiseite. Gerade weil sich die verzwickte Geschichte dem linearen Erzählstrom widersetzt, überzeugt die Konzentration auf die sinnlich emotionale Ebene. Im raffinierten Zusammenspiel aus Nähe und Distanz, aus Tableau und Bewegung, aus Licht, Farbsymbolik, Videoprojektion und Klanglandschaft ist eine Choreografie von intrigierender Schönheit entstanden.
Langsam kommen die Zuschauer zu sich. Zwei junge Frauen aus der Ukraine sind „tief beeindruckt“. Beklemmende Halbzeitstille in der Heilbronner Innenstadt, inspiriert vom Ballett hüpft ein Tanzenthusiast (geschätzt Mitte Sechzig) über den Berliner Platz. Und der Bildhauer Jörg Jauß ist beglückt: „Das ist doch viel spannender als Fußball!“ Da wird die zweite Halbzeit gerade erst angepfiffen.
Info: „Gefährlichen Liebschaften“ der Staatsoper Hannover im Großen Haus des Theaters Heilbronn, am Samstag 30. Juni und am Sonntag 1. Juli, jeweils um 19.30 Uhr.
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