Geschluchzte Pirouetten

„Des gens qui dansent“ von Jean-Claude Gallotta zum Ausklang der Tanzreihe am Theater Heilbronn

Heilbronn, 29/06/2008

„Jeder Mensch ein Künstler“ postulierte Joseph Beuys einst in den 80er Jahren. Eine Forderung, die der Architekt und Tanzpionier Rudolf Laban bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts für den Tanz ausgerufen hatte: „Jeder Mensch ein Tänzer“. Wie bühnenwirksam dieses Postulat umgesetzt werden kann, vergegenwärtigt Jean-Claude Gallotta in seiner aktuellen Choreografie: „Des gens qui dansent“, Leute die tanzen. Mehr noch zeigt der Franzose mit dem Ruf eines Tanzrevolutionärs den Menschen hinter dem Tänzer.

Die Bühne ist dunkel, seitlich offen und bis auf Ballettstangen, die den hinteren Raum begrenzen, leer. Unterschiedlich in Alter, Herkunft und Hautfarbe bringt Gallotta zehn Tänzer auf’s Podium. Nach einem unisono Spurt mit kleinen Bewegungseinlagen verharren die Individualisten in Alltagskleidung an der Rampe: „Ich tanze, um etwas zu erzählen“, „Ich tanze mit französischem Akzent, aber das ist mir egal“, „Ich tanze, um aufzuhören Alkohol zu trinken“. Persönliche Bekenntnisse geben Einblick in die Vielfalt der Motive. Die Offenheit ist entwaffnend und sensibilisiert den Blick für jeden Einzelnen. Brille und Birkenstocksandalen sind kein Argument, nicht zu tanzen.
„Plopp!“ Ohne benutzt worden zu sein, fallen die (nutzlosen) Ballettstangen zu Boden. Ist das das Signal, die letzte (mentale) Hürde einer, in Konventionen befangenen Kunst genommen zu haben? Leichtfüßig galoppiert ein Herrenduo „Bocca, bocca, bella“ singend durch den Raum. Ausgelassen wie Kinder, verrückt wie Verliebte werden Impulse anderer Tänzer (und damit anderer Tanzkulturen) aufgegriffen und weiter gesponnen. Sich frei tanzen ohne tanztheoretischen Ballast oder Ethnotümelei. Dabei verzichtet Gallotta nicht auf klassische Beinschwünge, Drehungen und Attitüden. Nie Selbstzweck bekommen sie als geschluchzte Pirouette oder zum Anbeißen schöne Arabesque neue Erzählqualität.

Abseits von höher, schneller, lauter ist das Stück eine charmante Liebeserklärung an die integrative Kraft des Tanzes und der Humanität. Das Publikum ist begeistert, wenn Gallotta über Leben und Kunst, Alltagswirklichkeit und Bühnenrealität reflektiert oder verdutzt über eine Fragen wie: „Haben Sie genug Zeit im Leben mit Lieben verbracht?“. Geradewegs an die Zuschauer gerichtet will die Antwort gut überlegt sein - ob der Maitre de Plaisir da wirklich mit einer spontanen Reaktion aus dem Saal gerechnet hat? „I want to dance“, flüstert er rappend ins Mikro. Zur subtilen Musikkollage (Strigall) saust der gewitzte Joker durch die Szenerie aus ungleichen Paaren, Trios und Quartetten und wirft einen Blick auf das Lebensende: Eine Filmeinspielung zeigt Henry Miller auf dem Totenbett. „Silly to say“, frotzelt der knapp 90-jährige, an der Existenz eines Schöpfergottes zweifelnde Nietzsche-Adept: „I’ll soon know, who or what or how creation is” (Bald werde ich wissen, Wer oder Was oder Wie Schöpfung ist).

Mit Esprit und philosophischem Tiefgang klingt die, von Madeline Ritter kuratierte Tanzreihe in Heilbronn aus. Intendant Martin Roeder-Zerndt bittet das Publikum nach der Vorstellung auf eben jene Bühne, auf der Weltstars wie Sylvie Guillem und Michail Baryschnikow zu Gast waren. Was mit dem spröden Stück Mathilde Monniers aus Montpellier begonnen hatte, nimmt nach fünf Jahren mit Gallotta aus Grenoble ein gutes Ende: Bei einem „Bal moderne“ können die Heilbronner ihre Tanzfreude mit dem Ensemble aus Frankreich teilen. Wenn nicht jeder, so doch wer will, ein Tänzer.

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