Ein Hauch von Ewigkeit
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Schweigend fasst er unter den Ellbogen der Besucherin und bohrt seinen Daumen sanft entlang ihres linken Schulterblatts. Eine kühle Brise vom Meer weht über die Körper. Was nach kitschigem Dreigroschenroman klingt, ist Teil einer durchkomponierten Festival-Partitur. Virgilio Sieni kommuniziert in der 9. Tanzbiennale von Venedig mit dem Publikum über alle Sinne. Wer möchte, wird abends vor dem Teatro alle Tese, am Kai der ehemaligen Schiffswerften von Fachkräften mit einer Viertelstunde kostenloser Shiatsu-Massage verwöhnt. Erschöpfte Festivalaugen rasten. Verspannte Zuschauerkörper energetisieren und schwingen sich auf kommende Kunstdarbietungen ein.
Die Überschreitung gängiger Wahrnehmungsmodi zieht sich als roter Faden durch das hyperkomplexe, fast verwirrend fein ziselierte Programm des neuen Direktors Sieni. Der gebürtige Florentiner setzt neben konventionellem Gastspielbetrieb auf prozessorientierte Experimente, jugendlichen Nachwuchs und den öffentlichen Raum. Selten stolperten unbedarfte Touristen über so viel Tanz in der Stadt wie heuer. Insgesamt 25 Mal spielen fünf unterschiedliche Formationen auf vier Plätzen unter freiem Himmel. Noch nie war die parallel laufende Architekturbiennale dermaßen eng mit der Tanzbiennale verzahnt. Wer durch die kühlen Ausstellungshallen der Corderie dell’Arsenale wandert, begegnet zwangsläufig zwischen Screens, Fotos, Skizzen, Plänen und Modellen Tanzenden, die coram publico proben. Sieni und Achitekturbiennale-Leiter Rem Koolhaas suchen bewusst die Reibung von pulsierenden Leibern mit anorganischen Artefakten.
Sieni selbst begreift die tänzerische Geste als politisch-visionäres Statement für konstruktive Veränderung. Veränderung, die er unter anderem mit Hilfe neuer Publikumsschichten, etwa den ganz Jungen, zu verwirklichen hofft. Wie viel zeitgenössisches Potenzial bereits in 10- bis 14-jährigen steckt, wenn sie professionell angeleitet werden, zählt zu den erfrischenden Überraschungen dieser Tanzbiennale. Sechs namhafte Tanzschaffende, darunter der Chef persönlich, präsentieren temporäre Projekte zum Motiv des Spiels mit Jugendlichen aus unterschiedlichen Regionen Italiens. Keineswegs erschöpft sich dabei das Repertoire in der Nachahmung von Gala-Abenden mit Tutus auf Spitze. Vielmehr komponieren die vier Choreografinnen und zwei Choreografen ihre Entwürfe aus einer Teenie-Perspektive. Cristina Rizzo lässt ihre siebenköpfige Truppe zu Ravels “Bolerò“ wieder und wieder ausschwärmen, sich formieren und zurückziehen, wie fleißige Bienen, die fröhlich ihres Territoriums walten. Adriana Borriellos Trio “Tacita Muta“ fasziniert mit der enormen Bühnenpräsenz in den regungslosen Passagen. Helen Cerinas Sextett “Post grammatica“ formt aus übermütigem Fangen, Tempelhüpfen und Kinderreimen ein quirliges, zeitgenössisches Tanzvokabular.
Freilich darf “konventionelle“ Weltklasse im Guckkastenformat nicht fehlen. Die Eröffnungsproduktion und gleichzeitige Weltpremiere “Lines“ des japanischen Choreografen Saburo Teshigawara bestätigt seinen Ruf als Meister eines meditativ-eleganten zeitgenössischen Tanzes. Gemeinsam mit seiner Partnerin Rihoko Sato verleiht der ursprünglich in klassischem Ballett ausgebildete Teshigawara den Geigenstücken von Bach, Bartók und Biber (beeindruckend live auf der Bühne von Sayaka Shoji interpretiert) im wahrsten Sinne des Wortes Flügel. Die nackten Arme der Beiden wirken auf der düsteren Bühne im schwarzen Kostüm bei schnellen Bewegungen wie das schillernde Flattern von Vögeln.
Enzo Cosimi unterstreicht tags darauf in der Weltpremiere seines Solos „Sopra di me il diluvio_prima trancia“ (Über mir die Sintflut), wie stark der italienische zeitgenössische Tanz in einem radikalen Tanztheater der 1980er Jahre wurzelt. Die androgyne Paola Lattanzi laviert gekonnt als existentialistische Dragqueen zwischen lasziver Sexualität, Animaliät und höchster Verletzlichkeit. Seinem Image als „unkorrekt Geschmackloser“ bleibt Cosimi auch diesmal treu, indem er das Stück mit Filmeinspielungen aus den afrikanischen Ruanda-Genozid enden lässt.
Unangefochtener Höhepunkt der ersten Biennale-Hälfte bleibt allemal das Solo „Bound“ von Steve Paxton aus dem Jahr 1982. Der 74-jährige US-Amerikaner Paxton, frischgebackener Goldener-Löwe-Preisträger der Stadt Venedig, übergab vor zwei Jahren “Bound“ dem um 40 Jahre jüngeren Slowenen Jurij Konjar. Mit welcher dramaturgischen Präzision Paxton den exzellenten Tänzer Konjar mit Badehaube und Blindenbrille durch eine Abfolge aus abstrakt-choreografischem Passagen und surrealen Handlungen (großartig der Tanz mit vier überlangen Holzlatten) schickt, das sucht seinesgleichen. Was Paxton in einem Interview als Desorientiertheit eines traumatisierten Vietnam-Veteranen beschreibt, kann aus heutiger Sicht auch als milde Amnesie eines Alzheimer-Patienten im Anfangsstadium oder einer Borderline-Persönlichkeit gelesen werden. In jedem Fall agiert ein Mann becketthaft konsequent neben der Spur.
Die Zuschauer dürfen sich wieder auf der Shiatsu-Matte am Kai der Schiffswerften legen, um den wunderbaren Overflow an intellektuell-visuellem Input über jede einzelne ihrer Poren zu verdauen. Namaste.
Mit freundlicher Genehmigung von www.kleinezeitung.at
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