Die beiden südhessischen Staatstheater sind in der Phase des Neustarts. Mit den Intendantenwechseln wurden die Ballettkompanien beider Theater zu einer geschrumpft. Ballettdirektor Tim Plegge muss nun die gewaltige Aufgabe stemmen, zwei höchst unterschiedliche Bühnen zu bespielen und die erhebliche Entfernung zwischen Darmstadt und Wiesbaden zu überwinden. Inwiefern das die Städte oder zumindest deren Theaterpublikum einander näher bringen soll, das bleibt vorerst Geheimnis der Planenden.
Das neu gegründete Hessische Staatsballett hat 28 Ensemblemitglieder, von denen die Hälfte Tänzerinnen und Tänzer der früheren Kompanien sind und die andere Hälfte neu ausgewählt wurde. So wird es dem interessierten Publikum bei den Einführungen vor Beginn des dreigeteilten Abends namens „Aufwind“ erklärt. Das bedeutet wie immer in solchen Fällen: alle müssen sich erst einmal kennenlernen, miteinander vertraut machen, um dann zu versuchen, ein Ensemble zu werden. Genau darauf bezieht sich die erste Choreografie des Ballettdirektors, die er „Vom Anfang“ nennt.
Tim Plegge kommt aus der John Neumeier-Schule, ist also dem neoklassischen Ballett verbunden. Für seine Uraufführungschoreografie hat er fast durchgängig Musiken gewählt, die Gefühle von Einsamkeit und Melancholie transportieren (Schumann), und jedenfalls den Anteil der vorwärtstreibenden Energie (Kurtag) komplett übertönen. Warum nur? Dazu kommt ein riesiger Bühnenraum als schwarzer Guckkasten, der nur spärlich beleuchtet wird und als einziges Bühnenelement eine schräge Zusatzbühne hat, deren Ränder auch mal zum symbolträchtigen Absprung in unbekanntes Terrain dienen. Farbe gibt es gar nicht, nur helle, hautfarbene T-Shirts zu schwarzen Anzugshosen und Kleidchen. Plegge konzentriert sich ganz auf den Tanz, auf 12 seiner Ensemblemitglieder, scheint deren Können vorsichtig erproben zu wollen. Das Thema der Einsamkeit, des Um-sich-selbst-Kreisens wird zelebriert, Gruppenbildungen geschehen behutsam und gehen auch negativ aus. Gute Stimmung sieht anders aus, da kommt eher vorgezogener November-Blues auf. Ganz anders die Stücke der beiden Gastchoreografen, die unbekümmert um Erwartungen des heimischen Publikums oder die Neuzusammensetzung des Ensembles ihre Ideen umsetzen.
Bei Richard Siegal, dem Amerikaner aus dem einstigen Ballett Frankfurt, ist es wiederum eine Uraufführung, die er für zehn Ensemblemitglieder erarbeitet hat. Faszinierend wie der einstige Forsythe-Tänzer die Ideen seines Lehrers weiter entwickelt. Vier Männer und sechs Frauen sind für „Liedgut“ gleichermaßen in eng anliegende glänzende Trikots gepackt, anfangs in Weiß, später in Schwarz. Sie zeigen weitgehend identische Bewegungen, die in Spitzenschuhen (bei den Frauen) und mit den typischen Arabesken des Klassischen Balletts daher kommen. Die Brüche zur Klassik sind hart, sie werden in Bühnenbild (Siegal) und Musik (Atom™) vorangetrieben, aber ironisch umspielt. Eine raumhohe Lichtstele wird dank der neuen LED-Technik zur wandelbaren Skulptur und ist zudem die einzige Lichtquelle. Die elektronische Musik ist von Kraftwerk inspiriert und spielt mit deutschem Liedgut. Phasenweise meint man die Tänzer sogar schunkeln zu sehen, in Ballettmanier natürlich. Atemberaubend, faszinierend, voller Leichtigkeit und mit vielen witzigen Momenten.
Der Schwede Alexander Ekman, der im Cullberg Ballett und beim Nederlands Dans tanzte, hat sein 2012 in Den Haag uraufgeführtes Stück „Left Right Left Right“ mitgebracht. Für die durchgängige Gruppenchoreografie vollbringen 22 Tänzer in wiederum identischer Kleidung - hellgraue Anzüge und weiße Turnschuhe – ganz erstaunliche Fitnessakte. Da wird laut und vernehmlich ausgeatmet, wie beim Kampfsport, auf Kommando die gleichen Bewegungen ausgeführt, wie im Aktionstheater. Aus vermeintlichem Chaos entsteht schnell wieder Ordnung, allerdings im Stillstand. Hingegen ist im zweiten Teil alles auf Konzentration in der Bewegung ausgerichtet, und das auf Laufbändern wie in Fitnessstudios. Frappierend, was man darauf und drumherum noch alles machen kann. Dazwischen wird ein fröhliches Video (Ekmann) gezeigt, für das die Tänzer im Sommer durch die Innenstädte von Darmstadt und Wiesbaden getanzt sind.
Immer wieder ertönen Stimmen aus dem Off, die das Bühnengeschehen erklären, in Frage stellen oder ironisch kommentieren. Unter anderem wird die Frage gestellt, die sich vermutlich die meisten Zuschauer stellen: was macht eigentlich die Frau in dem knallroten Abendkleid, die die ganze Zeit am Bühnenrand in Zeitlupe entlang schleicht. Eine Reminiszenz an Pina Bauschs somnambule Tänzerinnen? Zumindest der einzige Farbfleck des ganzen „Aufwind“-Abends, für den das Prädikat „absolut sehenswert“ gilt.
www.hessisches-staatsballett.de
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