Ein Triumph der Jugend
John Neumeier eröffnet die 48. Hamburger Ballett-Tage mit „Romeo und Julia“
São Paulo liegt nicht gerade neben Verona. Doch auch im fernen Brasilien berührt und erregt die unsterbliche Liebesgeschichte um Romeo und Julia. Choreografiert und inszeniert hat sie dort Giovanni Di Palma. Er war lange Jahre der führende Protagonist in den Leipziger Schöpfungen des Uwe Scholz und ist nun Ballettmeister bei der 2008 erst gegründeten, staatlich wohlgestützten São Paulo Companhia de Dança, die mehrfach bereits in der Bundesrepublik gastierte und bei der besonders Marco Goecke ein gern gesehener Gast ist.
Mit „Romeu e Julieta“ hält das erste Handlungsballett klassischer Manier Einzug ins Repertoire, und auch für Giovanni Di Palma ist dies sein erstes abendfüllendes Ballett. Dazu hat er, nicht zuletzt auf Wunsch der Leitung, die im Original über satte dreieinhalb Stunden sich dehnende Geschichte auf gut 80 Minuten Spieldauer gekürzt: An größere Längen müssen sich brasilianische Zuschauer erst noch gewöhnen.
So beginnt der Abend, ohne Ouvertüre, gleich mit der Begegnung der verfeindeten Jugendcliquen inmitten einer von Ausstatter Jérôme Kaplan gedämpft antik gestalteten Szene, hauptsächlich mit hellem Stoff, Toren und säulenbewehrten Rundbauten. Den friedlichen Tanz des Montague-Volks sprengt Tybalt und zieht sein Florett, während Mercutio ihn und andere „nur“ mit einer Feder, seinem permanenten Requisit, neckt. Anstelle des Herzogs sucht Lorenzo die Feinde zu beschwichtigen, weiß jedoch hinter seinem Rücken bereits wieder die Waffen gezückt. Viel Technik verordnet Di Palma seinen Tänzern, klassisch bestens geschulten jungen Talenten, optisch wie tänzerisch gut anzuschauen. Selbst der Diener, der im Hause Capulet bloß die Masken verabreicht, hat sein leichthin serviertes Solo. Den Tanz der Ritter führen die Capulet-Herren beim Fest mit gezücktem Florett aus, immer zum Kampf bereit. Spät erblickt Julia dabei „ihren“ Romeo, hat sich bis dahin brav dem Grafen Paris als Partner gefügt. Zufällig fängt beim Wechselreigen der Spross der Montague sie in seinen Armen auf. Das ändert alles. Ihr Kennenlern-Duett grundiert ständig die Gruppe - nichts also mit „Welt steht still“, wie die Gruppe in dieser lebendigen Inszenierung überhaupt bestens eingesetzt ist.
Eine freie Fläche mit zwei Säulen-Etagen wie auf dem Markt von Pompeji wird Schauplatz für die Balkonszene. Zuvor jagt Tybalt dort Mercutio und Benvolio nach, die Bedrohung ist also allzeit latent. Julia schaukelt, ehe sie vom Balkon herabsteigt, unten auf ihren Verehrer stößt und sich beider Zuneigung bis zum keuschen Kuss im Tanz entladen kann. Dass hier wie auch an anderen Stellen bisweilen der Variationsehrgeiz die Emotion gefährdet, kennt man ebenso aus anderen Inszenierungen. Kurze Bilder leiten den zweiten Akt ein. Der lagernde Romeo sieht hinter einer Gaze, wie Julia ihre Amme mit einem Brief beauftragt. Der Geliebte rast mit ihm sofort in Lorenzos Reich, stimmungsvoll angedeutet durch eine Tür und einen Lichtstrahl als Weg. Lorenzo segnet das Paar, und alles könnte glücklich verlaufen. Doch vor dem antikisierenden Rundbau eskaliert die Feindschaft mit bekanntem Ausgang: Tybalt schlägt dreimal Romeos Hand aus und ersticht Mercutio just, als Romeo diesen schützen will. Gottlob ohne das meist zelebrierte Todessolo haucht Mercutio hier sein Leben aus, ihm folgt von Romeos Waffe Tybalt nach. Julia ihrerseits beobachtet hinter der Gaze - und das ist ein neuer Einfall - den Kampf mit. Sie weiß also bei Romeos Auftauchen schon um die beiden Morde. In dieser verzweiflungsvoll gespannten Atmosphäre vollzieht sich beider erste Nacht, wiederum mit viel Tanz voller origineller Umgriffe und Hebungen.
Dass Paris als Freier von Julia nicht klarer abgelehnt wird, mag man bedauern: Kurz nur hält er die Hand der kaum sichtlich Widerstrebenden. Lorenzo in seinem Reich umfängt und wiegt das Mädchen wie ein Kind, hat am Ende die tröstliche Medizin parat. Auch der Lilientanz der Jungfrauen am Hochzeitstag ist, wie zuvor das Karnevalsbild, den zahlreichen musikalischen Strichen zum Opfer gefallen. Nahtlos geht es in die zweigeteilte Szene mit dem Gift über: Links hinten ringt Julia mit sich, rechts vorn warten tanzend Freundinnen, Mutter, Paris. Gestalten mit Kapuzen, wohl Julias Fatum, tragen die Leblose in die Gruft.
Der herbeigeeilte Romeo meuchelt dort den trauernden Paris und sucht Julia im Tanz zu beleben, trinkt Gift, kann sich mit der Erwachten noch im Duett vereinen und stirbt in ihren Armen. Still, starr, einsam enden beide: Julia stirbt mit dem Dolch durch Romeos Hand im Herzen, ehe das Licht erlischt und die Musik vom Band ausklingt. Eine Versöhnung der verfeindeten Familien findet nicht statt.
Eine ganz am klassischen Schritt und Gestus orientierte Version legt Giovanni Di Palma vor, deren Vorzüge der stringente Tanz und eine kompakte, aufs Wesentliche reduzierte Handlung sind. Dass mancher Umschlagpunkt deutlicher herausgearbeitet sein könnte, bleibt als Anmerkung. Wenn ein Choreograf jedoch als erstes Handlungsballett die international fast überstrapazierte und dabei alles andere als leicht in Szene zu setzende Story um Romeo und Julia wählt und dabei mit einer prinzipiell stimmigen Lesart aufwartet, verdient das ein Achtungszeichen. Lob gebührt ebenso den jungen Tänzern, insbesondere der zarten, so sicheren Aline Campos als Julia, dem farbigen Elegant Nielson Souza als Romeo, Diego de Paulas feurigem Mercutio, Geivison Moreiras heißspornigem Tybalt. Selbst Paris, häufig als wenig attraktiver Aristokrat charakterisiert, kann sich sehen lassen wie auch alle anderen Tänzer: schlank, langbeinig, gut präpariert – eine Augenweide.
Noch keine Beiträge
basierend auf den Schlüsselwörtern
Please login to post comments