Hold it, please!

„Situationen“ von Tino Sehgal

Tino Sehgals Werkschau im Martin-Gropius-Bau

Berlin, 04/08/2015

Mit dem Wissen, dass sich das eigene Sehvermögen an die Dunkelheit gewöhnt und mit der Zeit diesen Raum mitsamt seines Inhalts offenbaren wird, taste ich mich geduldig und vorsichtig voran. Schließlich zeichnen sich zwei Menschen am Boden liegend ab, die sich beständig erneut ineinander verwirren. Vermutlich nackt und gewiss küssend.

10:30 Uhr Martin-Gropius-Bau, Berlin: Vereinzelt haben sich ein paar BesucherInnen auf den Treppen zum Lichthof niedergelassen und folgen mit ihren Blicken den beiden Performenden in der Mitte des Saals. Eine Frau und ein Mann in Alltagskleidung verändern in unaufhörlicher Langsamkeit ihre Positionen, versinken ineinander, ein Kuss, umarmen sich wieder, stehen auf, sitzen, ein zweiter Kuss. Die BesucherInnen gewähren den beiden sehr viel Raum – Bühnenraum – als würde ein imaginierter Zirkel um jene Situation einen Radius zur Distanzwahrung abstecken.

Eine andere Situation heißt die Personen mit ihrem Eintreten willkommen: „Welcome to this Situation.“ Im gleichen Zuge verändern die vermeintlich Involvierten im Uhrzeigersinn ihre Position im Raum, laufen dabei rückwärts. Die Situation ist beengt, viele der MuseumsbesucherInnen bleiben als Zaungäste gleich im Türrahmen stehen, einige schieben sich versucht unauffällig durch den temporär installierten „Situation Room“ und finden in einer Ecke Platz zum Sitzen. Hier wird diskutiert – über „westliches“ Konsumverhalten am Beispiel der Nachhaltigkeit eines Flachbildschirms im Unterschied zum früheren Röhrenmodell. Oder wie verwundbar im Grunde 'unsere' Versorgungssysteme in Anbetracht der Möglichkeit von terroristischen Interventionen sind. Schnell vermittelt sich ein vermeintliches Muster: Mangelt es der Diskussion an Dynamik, begrüßen die Performenden die nächste Person, die den Raum betritt mit der Formel „Welcome to this Situation“ und ein Themenwechsel folgt.

Das küssende Paar aus dem Lichthof ist nun verschwunden und stattdessen sitzen da zwei weitere Performerinnen. Mit Klack-, Summ- und Schnalzgeräuschen etablieren die beiden einen Rhythmus und einen immensen Klangraum, zu dem und in dem sie sich abwechselnd bewegen. Zunehmend verfallen sie in harmonischen Satzgesang. Einen zeitweilig dramaturgischen Höhepunkt markiert der Moment, in dem sich nach und nach alle PerformerInnen im Lichthof sammeln und im gleichen Zuge den Klangraum akustisch erweitern. Sie liegen, stehen, sitzen und installieren „schließlich“ auf einer der Treppen des Lichthofs eine Art Tableau Vivant. Ein Moment des Innehaltens, des Nachhalls, ein Höhepunkt, der sich im Anschluss in die jeweiligen „Ausstellungsräume“ erneut vereinzelt.

Tino Sehgals choreografierte Situationen erschließen sich - und das wird mit einiger Zeit klar – nicht als lebendige Installationen, die von den BesucherInnen beliebig begangen werden können. Sicher werden hier Momente oder besser Situationen installiert, jedoch entgleiten sie dem Versuch der betrachtenden bzw. erfahrenden Vereinnahmung. Man wird diesen Situationen nie vollends gewahr, die irgendwo ihren Anfang und dann auch wieder ihr Ende nehmen, sich miteinander verbinden und vereinzeln. Situationen, die Wege und Aufmerksamkeit lenken und zerstreuen, Hemmungen schüren und alsbald fallen lassen. Nicht nur wird man ihnen nicht gewahr, sie vereinnahmen selbst und so beginnen einige PerformerInnen im Dunkel eines weiteren Raumes zu umarmen.

Vielmehr als Fragen um Materialität oder Flüchtigkeit und damit auch kapitalistische Verwertungskreisläufe, die die Diskussion um performative Arbeiten im räumlichen Kontext der bildenden Kunst bereits seit den 1960ern dominieren und allmählich ermüden, ermöglichen jene installierten Situationen im Martin-Gropius-Bau vor allem ein Erfahren und Beobachten von verschieden organisierten Wahrnehmungsmodi und damit Zugängen zur Kunst – ganz gleich welcher Trägermaterialität. Zugänge und Verhaltenskodexe werden strapaziert. Spannend zugleich zu beobachten, dass die BesucherInnen das Museum betreten und zumeist in den Modus eines Theaterpublikums verfallen, und schließlich doch wieder herausfallen, indem sie sich zunehmend selbst als Publikum thematisieren und andere BesucherInnen in ihren Bewegungen beobachten. Es gibt keinen Mindestabstand der zu wahren wäre, kein Berührungsverbot und auch keinen abgesteckten Bühnenraum und doch werden vermeintliche Grenzen selten ausgereizt. Jedoch birgt jeder Moment zumindest die Möglichkeit all dieser Interventionen. Jene Schwebezustände konfrontieren zeitweilig mit der inneren Sehnsucht „Hold it, please“, für einen Augenblick. Es sind nachhaltige Augenblicke von beeindruckender Dauer, die im Martin-Gropius-Bau in Form von fünf (einhalb) Situationen gezeigt werden. Darunter Situationen wie „The Kiss“ (2007), „This Situation“ (2007) oder „This Variation“ (2012). Im Grunde braucht es diese Information jedoch nicht, um sich einen Zugang, einen eigenen Zugang, zur Erfahrung dieser Arbeiten zu bahnen – genauso wenig, wie das Wissen um die künstlerische Intention Tino Sehgals oder die philosophie- bzw. kunstgeschichtlichen Diskurse, auf denen einige Situationen mitunter zitatförmig referieren.

„Tino Sehgal“ ist noch bis zum 08.08.2015 im Martin-Gropius-Bau zu erleben.

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