„Das Lied von der Erde“ von John Neumeier

„Das Lied von der Erde“ von John Neumeier

Symbolisch karg

John Neumeier am Ballett der Pariser Oper

„Das Lied von der Erde“ könnte sein letzter Mahler sein, ließ der Choreograf verlauten. Einzig ein Kreissegment in veränderlicher Farbe strahlt auf die Bühne, das an die abstrakten Gemälde von seinem Tänzer-Idol Nijinsky erinnert.

Paris, 25/02/2015

Neben Bach und den Neusichten der großen Ballettklassiker gehört John Neumeiers choreografisches Hauptinteresse seit Anbeginn den Werken Gustav Mahlers. Mit dem Ballett der Pariser Oper hat er nun „Das Lied von der Erde“ erarbeitet, Mahlers Opus magnum von sinfonischem Anspruch, mit dem er abergläubisch der todbringenden Neunten ausweichen wollte. Und doch vor der Uraufführung starb. Vorbei sind die kraftvollen Kämpfe, Zitate von Märschen und Volksliedern, die auch Neumeier stets zu wunderbaren Gruppenchoreografien und sich rasant abwechselnden Tableaus inspirierten, denn fast alle Sinfonien und Lieder Mahlers hat er schon choreografiert. „Das Lied von der Erde“ könnte sein letzter Mahler sein, ließ er verlauten. Dafür hat er noch einmal Tabula rasa gemacht, lässt einzig ein Kreissegment in veränderlicher Farbe auf die Bühne strahlen, das an die abstrakten Gemälde von Neumeiers Tänzer-Idol Nijinsky erinnert. Über allem ein Spiegel, auf dem Boden ein allerdings sehr irdisches Rasenstück.

Gereinigt, symbolisch karg sind auch die Bewegungen, die Hände vor den Augen, die gebückte Drehung um die Beine des Partners, eine Geste des Trinkens, das etwas pantomimisch-klischeehafte Ertasten unsichtbarer Wände. Sie kehren alle stetig wieder in diesem erinnerten Lebenslauf, zu dem der Protagonist Mathieu Ganio noch einmal traumwandlerisch aufbricht. Denn meist bleibt er Beobachter, immer Fremder im Geschehen, kann nicht wie die (Lebens)Trunkenen mit den Mädchen tollen. Die klassischen Tours en l'air und Jetés der Jungs bricht Neumeier mit abgewinkelten Füßen und Händen, gibt dem Trunkenen im Frühling von Vincent Chaillet lustig-eckige Beinarbeit. Schon die Frauen wirken immer umflort, werden waagerecht vor die Brust erhoben wie Opfergaben, schweben schließlich wie Verwandte der Wilis auf Spitze im Raum. So wie Mahler in dieser Sinfonie auf Worte des Abschieds Abschied nimmt von seiner früh verstorbenen Tochter, von seinem manneskräftigen Leben vor der Diagnose seiner Herzkrankheit.

In einem Prolog hat Neumeier Ganio ein Alter Ego an die Seite gestellt. Der blonde Karl Paquette scheint unbeschwerter ins Leben zu ziehen. Er kommt zum letzten langen Abschiedslied zurück wie ein Freund aus Jugendtagen, wie das Leben selbst. Ganio kann auch ihn nicht gleich fassen, so wie sich ihm immer wieder Figuren kurz vor der Berührung entzogen haben. Er war der Welt wohl immer schon etwas abhandengekommen. Nun erst kann er seinen Kopf doch noch im Schoß des Freundes bergen, Paquette streichelt ihn, dann streben sie an langen Armen auseinander. Denn mit Laetitia Pujol tritt die Frau, die Mutter, die Erde auf, sie bilden den ewigen Kreislauf des Werdens und Vergehens. Ganio umfasst sie, hebt sie, trägt sie wenig weiter und umrundet sie, um diesen Ablauf zu wiederholen, „ewig, ewig“ klingt es dazu aus dem Lied, dann weichen sie ins Gegenlicht, sind Schatten geworden.

Das gelingt rührend, Ganio ist ein Melancholiker von aufgeräumter Traurigkeit, und Pujol eine Frau von strenger Noblesse. Konsequent hat Neumeier alles Jugendstilartig-Poetische ausgetrieben. Was in den lebensvolleren Passagen etwas schroff und nackt wirken kann. Über allem schwebt ein asiatischer Minimalismus, der jede Bewegung ins Symbolische hebt, wo auch mal Leichtigkeit und Ungezwungenheit berühren würden. Den Ton einwilligender Weltentsagung, der Mahlers Weltabschiedswerk durchweht, trifft Neumeier freilich präzise.

Viel Applaus und Bravos für Neumeier, die Tänzer und die hervorragenden Gesangssolisten Burkhard Fritz und Paul Armin Edelmann unter Patrick Lange am Pult.
 

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