Stühlerücken auf dem Tanzboden
Das Hessische Staatsballett kommt – die Ballettchefs der Staatstheater im Südwesten wechseln
Neben der Präsentation von eigenen Stücken, die alternierend in Wiesbaden und Darmstadt gezeigt werden, hat sich das neue Hessische Staatsballett den Blick über den kulturellen Tellerrand auf die Fahnen geschrieben. Kurator Bruno Heynderickx ist zuständig fürs Experimentelle: die Beteiligung an Produktionen, die Ausschreibung von Choreografie-Residenzen oder die Einladung von Gastspielen. Motiviert durch die Frankfurter Buchmesse – die in diesem Jahr Indonesien als Gastland präsentierte – ermöglichte das Staatstheater Darmstadt die Begegnung mit Tanz aus Indonesien. Abschließender Höhepunkt dieser Reihe war ein Gastspiel der Company Leineroebana, deren 2013 entstandenes Stück „Ghost Track“ eine wundersame indonesisch-europäische Begegnung zum Thema hat.
Leineroebana steht für die Choreografen Andrea Leine und Harijono Roebana, die sich seit 25 Jahren sozusagen als dienstälteste freie Company in Amsterdam einen Namen gemacht haben. Hauptsächlich für das ganz besondere Zusammenfinden von Musik und Bewegung/Tanz. Und so war es nicht die Herkunft des Halb-Indonesiers Roebana, die den Anlass für „Ghost Track“ geboten hat, sondern die Begegnung mit dem wichtigsten zeitgenössischen Komponisten des Landes, Iwan Gunawan. Dieser verbindet indonesischen Gamelan lässig mit Zwölftonmusik, Minimal oder Elektrosound und kann mit seinem Ensemble Kyai Fatahillah auch schon mal richtig Party machen – live zu erleben in Darmstadt.
Dieselbe unbekümmerte Neugier hat das Choreografen-Duo beim grundlegenden Bewegungsexperiment für „Ghost Track“ an den Tag gelegt: die westlich ausgebildeten TänzerInnen ihrer Truppe treffen auf indonesisch trainierte Tänzer. Da stehen zwei völlig unterschiedliche Bewegungskonzepte im Raum. Der traditionelle Tanz aus Java ist ein hart akzentuierter, kraftvoller Bewegungsablauf auf der Stelle, für westliche Augen ein Mix zwischen Tempeltanz und asiatischem Kampfsport, mit eckigen Bewegungen, schneller Fußarbeit und filigranen, bedeutungsgeladenen Fingerbewegungen. Als westlichen Kontrapunkt setzen Leine und Roebana fließende Bewegungen im Raum, geprägt durch ein raffiniert versetztes Schwingen verschiedener Körperteile.
Wie diese Stile auf der Bühne zusammentreffen, das hat das Zeug zu einer wundersamen Lehrstunde über kulturelle Identität und Diversität – und den Versuch, vorurteilsfrei aus dieser Begegnung neue künstlerische Funken schlagen zu lassen. Was passiert, wenn die Einen versuchen, die Anderen nachzuahmen? Wie viel von ihrem individuellen Stil können sie aufgeben, was gewinnen sie dazu? Indonesische Tänzer zum Beispiel tanzen stets mit geschlossenem Mund – aus Ehrerbietung vor dem Publikum. Und wer immer Kontrolle über die eigenen Fingerbewegungen hat, kann nicht einfach locker mit den Armen schwingen. Andererseits ist es natürlich für westliche Tänzer ein Ding der Unmöglichkeit, diese komplizierte Sprache der Hände einfach nachzuahmen. Und so gerät der Ost-West-Dialog in den Sog künstlerischer Phantasie, die über Klischees oder simple Zuschreibungen weit hinausgeht.
Die Tänzer fordern sich heraus und ahmen sich nach, sie locken und grenzen sich ab, sie experimentieren mit den neu gefundenen Ideen und verlassen dabei alte Gewissheiten - das gilt für die Zuschreibungen von männlich oder weiblich gleich mit. Aber wo alte Gewissheiten ins Wanken geraten, entsteht plötzlich ein ungeahnter Mehrwert, der „Ghost Track“ dieser Begegnung sozusagen. Vor einem genial mit verschiedenen optischen Texturen spielenden Bühnenbild (Ascon de Nijs) konnte das Publikum 75 Minuten das Potenzial einer klischeefreien Ost-West-Begegnung bewundern – Standing Ovations.
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