„Petruschka“ von Tarek Assam
„Petruschka“ von Tarek Assam

Tanzcompagnie Gießen mit einem Strawinsky-Programm

Petruschka vs. Feuervogel - Tanzabend von Tarek Assam und Pascal Touzeau

Assam und Touzeau adaptieren zwei Fokin-Ballette in Gießen

Gießen, 12/10/2015

Für die Eröffnung der aktuellen Tanzsaison hat der Gießener Ballettdirektor Tarek Assam zwei Klassiker der Ballettmusik ausgewählt: „Feuervogel“ (1910) und „Petruschka“ (1911), die Igor Strawinsky für die Pariser Ballets Russes unter Sergej Diaghilew schuf. Als Ko-Choreografen holte Assam Pascal Touzeau, der bereits in der vorigen Spielzeit an dem erfolgreichen dreiteiligen Ballettabend von drei Choreografen am Stadttheater Gießen beteiligt war. Auch für diesen Tanzabend gilt: das Nacheinander unterschiedlicher Tanzstile – Contemporary mit Street Dance contra postneoklassischem Tanz - an einem Abend erleben zu können, das ist ausgesprochen bereichernd. Dazu erdachten die beiden Choreografen eine dramaturgische Klammer, die die neu interpretierten Stücke verbindet.

„Feuervogel“ (1910) und „Petruschka“ (1911) gehörten zu den ersten Ballettgesamtkunstwerken, alle beteiligten Künste sollten gleichberechtigt sein wie es auch in anderen Bereichen eine Forderung der Zeit war: Tanz, Musik und Bühnenbild. Die handelnden Figuren wurden nicht nur über unterschiedliche Kostüme charakterisiert, sondern Choreograf Michail Fokin gab ihnen auch charakteristische Tanzbewegungen. Wobei aus heutiger Sicht natürlich die Musik das Dominierende ist und sie sich ihre Modernität und ungebrochene Dramatik bewahrt hat.

Für Strawinsky war es der Durchbruch als Komponist. Die Entwicklung seiner Musik vom spätromantischen Pathos mit folkloristischen Einschüben hin zum gesteigerten Einsatz von Polyrhythmik, Synkopen und Bitonalität fand 1913 ihren Höhepunkt in „Le Sacre de Printemps“ (1913). Was damals zum Theaterskandal wurde, gilt heute als Schlüsselwerk der Moderne. Ein großes tanzhistorisches Erbe also, das Assam und Touzeau beide in jungen Jahren als Tänzer erlebten, in das sie sich nun als Choreografen einreihen. Nicht zu vergessen all die anderen namhaften Choreografen, die sich in vergangenen Jahrzehnten schon daran versuchten.

Die Originale sind erzählerisch angelegt, folgen russischen Märchenmotiven vom bösen Zauberer und dem Kampf um die Prinzessin, also dem immerwährenden Kampf von Gut gegen Böse. Die Gießener Adaption ist auch erzählend, in einer behutsam modernisierten Version, die sich in neutraler Namensgebung wie „Eine Frau, ein Mann“ anstelle von „Ballerina und Mohr“ ausdrückt, vor allem aber optisch in Bühnenbild und Kostümen von Imme Kachel sichtbar wird. Die geradezu magische Beleuchtung schuf Lichtdesigner Carsten Wank, der zum ersten Mal als Gast in Gießen dabei war während Kachel schon das erfolgreiche „Siddharta“ mitgeprägt hat.

Das musikalisch modernere „Petruschka“ hat sich Tarek Assam vorgenommen und weiß mit der Schnitttechnik des Stücks, den plötzlichen Rhythmuswechseln also, hervorragend umzugehen. Für dieses „Ballett der Straße“ schuf Kachel hin- und herfahrende Wandelemente, die auf mehreren Ebenen hintereinander den Eindruck von Straßen und Häusern hervorrufen. Zugleich erinnern sie mit ihrer grafisch reduzierten Form an die Entstehungszeit moderner Kunst und Architektur. Zwischen den Wänden pulsiert das Leben, entstehen wunderbare Bilder von Menschgruppen, alle ganz in Weiß gekleidet und geschminkt. Die drei vom Zauberer manipulierten Puppen heben sich durch schwarze Streifen und Rotakzente von den anderen ab. Petruschka als gequälte und gebrochene Figur wird vom bewährten Sven Krautwurst getanzt, Yuki Kobayashi gibt die rot bestrumpfte Frau, um die auch Romain Arreghini mit eckig-marionettenhaften Bewegungen kämpft. Wunderbare Pas-de-Trois-Bilder entstehen. Assam vertraut sich dem Bühnenbild an, setzt auf das tänzerische Können seiner Kompanie und verzichtet auf jegliches Requisit.

Die Verbindung zwischen beiden Strawinsky-Musiken stellt Alberto Terribile mit großer Bühnenpräsenz dar. In „Petruschka“ ist er ganz in Weiß gekleidet, oft mehr am Rande stehend als tanzend, und versucht die Menschen mit Beschwörungsgesten zu manipulieren. In Pascal Touzeaus „Feuervogel“-Version ist er komplett rot gekleidet, beeindruckt in einem ausgiebigen neoklassischen Pas-de-Deux mit dem verzweifelten Prinzen Ivan, dargestellt von Francesco Mariottini. Die Bezeichnung des Feuervogels als „Guardian“ wäre eigentlich mit dem Zusatz „Angel“ treffender, denn als Schutzengel fungiert er hier eindeutig.

Den bösen Zauberer tanzt wiederum Romain Arreghini. Höchst eindrucksvoll seine Kopf- und Halsbewegungen, die irgendwie an Dinosaurier-Animationsfilme oder Computerspiele erinnern; auch die Bezeichnung als „Sosie Master“ scheint davon inspiriert zu sein. Das von ihm verzauberte halbe Dutzend Jungfrauen – hier müssen auch einige Tänzer im Röckchen agieren – wirkt streckenweise eher soldatisch stramm in ihrer Corps-de-Ballet-Reihung. Mamiko Sakurai ist die Prinzessin, hier „Elle“ (französich „Sie“) genannt, in ihrer ausdrucksstarken, bezaubernd fragilen und sehr präzisen Tanzweise.

Die Bühne unterscheidet sich bei „Feuervogel“ durch den höheren Grad der Dunkelheit, zudem sind alle Kostüme bis auf das des Feuervogels/Guardians schwarz. Prägend ist hier die dauernde Verwendung von Requisiten: Tischhocker aus Metall und Glas werden von der Gruppe beständig umgebaut und unterschiedlich benutzt; beim dramatischen Höhepunkt mit Stehleiter zum raffiniert beleuchteten Catwalk. Ganz am Schluss klettern die Protagonisten beider Stücke von hinten über eine Brüstung, schauen sich gemeinsam mit den Zuschauern an, wie Petruschka und Iwan vom herabströmenden Wasser gereinigt werden. Emotional und überraschend. Das Publikum ging mit, ließ sich verzaubern und spendete allen Beteiligten des Abends gewaltigen Applaus.

Weitere Vorstellungen: 24. Oktober, 12. Dezember 2015; 2./ 21./ 31. Januar 2016, jeweils 19.30 Uhr im Großen Haus.

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