Jeder tanzt für sich allein
Ballett nach Motiven von Edward Hopper am Theater Chemnitz
Erfolg für Rainer Feistel mit dem Ballett „Giselle“ in Chemnitz
„Giselle oder die Wilis“, so der Originaltitel, mit der Musik von Adolphe Adam, ist wohl neben Tschaikowskis „Schwanensee“, seit der Pariser Uraufführung 1841, der Klassiker des romantischen Balletts.
Die erhaltenen Originalchoreografien von Jean Coralli und Jules Perrot werden immer wieder von großen Ballettkompanien einstudiert und haben, sofern die Tänzerinnen und Tänzer den enormen Ansprüchen gewachsen sind, nichts von ihrer Faszination eingebüßt.
Zahlreiche Choreografen kreierten auch neue Deutungen dieses Stückes, besondere Berühmtheit erlangten die Interpretationen von Mats Ek, 1982 mit dem schwedischen Cullberg-Ballett, die „Rote Giselle“ von Boris Eifman oder auch die Chemnitzer Choreografie von Stefan Thoss, für die er 2007 den Theaterpreis „Der Faust“ erhielt. Auch der Film nahm dieses Ballett auf, etwa 1969 Hugo Niebling mit so außergewöhnlichen Tänzern wie Carla Fracci und Erik Bruhn, oder Alexander Mitta 1982 mit seinem Film „Moskau – meine Liebe“. Es ist schon mutig, wenn Choreografen immer wieder neue Deutungen wagen, um uns die Geschichte nahe zu bringen, die auf eine von Heinrich Heine überlieferte Sage zurück geht, nach der jene jungen Bräute, die vor der Hochzeit sterben, im Grab keine Ruhe finden, zu eben jenen Wilis werden, die um Mitternacht erwachen und tanzen - und wehe dem, der in ihre Nähe gerät, den tanzen sie zu Tode. Jetzt hat der Chemnitzer Ballettchef Rainer Feistel seine Sicht auf den Klassiker vorgestellt.
Sein Ballett heißt ganz bewusst „Giselle“, denn das junge Mädchen steht im Mittelpunkt. Giselle lebt schüchtern und zurückgezogen, ist aber von einer großen, unbestimmten Sehnsucht befallen. Das wird zu Beginn mit einem schönen Bild beschrieben: Sie muss auf einen Stuhl steigen, um aus einem kleinen Fenster in die Ferne zu sehen. Dann wird sie zum Opfer eines gemeinen Scherzes. Ihre vermeintlich beste Freundin Barthilde überredet sie mit auf eine Party zu kommen, dort wettet diese, dass es ihrem Verlobten Albrecht gelingen werde, die schüchterne Giselle – wie man so sagt – herumzukriegen. Das gelingt diesem Obermacho denn auch. Die Wette ist gewonnen, und alles kommt ans Licht: Giselle wird verspottet, bloß gestellt, gemobbt. Was da passiert, ist die seelische Vergewaltigung eines Menschen, tödliches Mobbing zu romantischer Musik. Im zweiten Akt liegt das Opfer auf der Intensivstation und träumt sich in den Tod, und da spielt dann jenes sagenhafte Reich der Wilis eine Rolle, die dem Original des Balletts doch sehr nahe kommt.
Auf Spitze wird in Chemnitz nicht getanzt, sondern auf halber Spitze, also in den flachen Ballettschläppchen. Das ist auch in der Neoklassik der Moderne üblich und nicht ganz ohne, die Tänzerinnen müssen schon richtig gut sein, sonst wird das eine einzige Wackelei, am Ballett Chemnitz kann hiervon keine Rede sein.
Für die Solisten findet Rainer Feistel ausdrucksstarke Tanzkombinationen bei denen traditionelle Formen ihre Berechtigung haben: Sprünge, Drehungen, Hebungen, die Duette haben schon die Höhe eines Pas de deux.
Dazu fügen sich auch sehr zeitgemäße Stile ein. Feistel liebt die Sensibilität kleiner Bewegungen, etwa das Spiel mit den Händen. Er kann auch Tänzer in Bewegungen führen, bei denen die innere Zerrissenheit in der Bewegung Entsprechung findet.
Letztlich ist diese Interpretation gar nicht so unromantisch, zumal der Ausstatter Klaus Hellenstein die des Balletts auch zitiert. Er hat einen alten Ballsaal gebaut, der als Eventort genutzt wird, aber der alte Prospekt auf der Bühne könnte von einer einst hier getanzten „Giselle“ einfach hängen geblieben sein.
Die Tänzerinnen hat er in großgeblümte attraktive Kleider der 60er Jahre gesteckt, echte Hingucker, die Tänzer sind ein bisschen als Rock´n Roll Typen gestylt. Dazu gehen die Tanzstile bunt durcheinander - bis in die Breakdance Szene, wenn die Machos ihren Bräuten imponieren wollen, das machen sie ganz imposant. Jener Albrecht ist der Obermacho und der Tänzer Leonardo Fonseca besticht mit seiner verblüffenden Sprungtechnik und bringt den Wandel, vom gemeinen Verführer im ersten Teil zum einsamen Verlorenen im zweiten Teil, glaubhaft zum Ausdruck. Wie im Original wird er durch Giselle davor bewahrt, in den Tod tanzen zu müssen, Entlassung ins Leben auf Bewährung!
Die Leistungen der Solistinnen und Solisten sind überzeugend, ohne Wenn und Aber, was in den Choreografien der Gruppen im ersten Teil nicht immer der Fall ist. Das gleichen aber große Momente aus, wenn Natalia Kreku in der Titelpartie die Kraft ihrer Faszination nicht aus der Technik allein schöpft, sondern aus der berührenden Gestaltung ihrer Sehnsucht, ihrer Glücksmomente und ihrer tödlichen Enttäuschung. In kurzen Szenen wird zudem deutlich, wie groß der innere Abstand zwischen ihr und ihrem von Florian Seipelt getanzten Verlobten Hilarion ist.
Die muntere Helena Gläser als falsche Freundin ist genau das Gegenteil, geschickt und dabei dabei ein sympathisches Luder. Wenn Anna Saskia Pfeiffer als Myrtha, also als Anführerin der Wilis, auftritt, dann habe ich mir manchmal gewünscht, sie würde doch auf die Spitze gehen, aber wie sie die fantastisch hoch gestreckten Haltungen der Beine ausführt, das ist einfach Spitze. Von den Mitgliedern der Robert-Schumann-Philharmonie wird klangschön gespielt, eine gewisse Sachlichkeit unter der Leitung des aufmerksamen und fürs Ballett sensiblen Dirigenten Felix Benda lässt hören, dass diese Ballettmusik vielleicht doch besser ist als ihr Ruf, nicht zu vergessen die Solopassagen des Bratschers Hardy Wenzel.
Den deutschen Theaterpreis „Faust“ gibt es wahrscheinlich nicht, aber den des Publikums ganz sicher. Das wird auch der einsame, lautstarke Buh-Brüller nicht verhindern.
Nächste Aufführungen: 29.04. / 3., 22.05. / 6., 20., 25., 28. 06.
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