Der Tod im Sommer des Lebens
Reiner Feistels Ballett „Mozart - Briefe“ in Chemnitz
Da sitzen sie, die Nachtschwärmer: eine Frau, zwei Männer, dazu der Barkeeper an einer Bar in New York. Sprachlosigkeit, Einsamkeit, Leere. Die Nacht ist noch nicht zu Ende, der Tag hat noch nicht begonnen. Der Betrachter sieht diese Menschen durch ein großes Fenster. Sie wirken, als ob sie hier sitzen geblieben wären oder, schlimmer noch, sitzen gelassen worden, als könnten sie sich auch nicht entschließen aufzustehen und zu gehen.
„Nighthawks“ von 1942 ist eines der bekanntesten Bilder des amerikanischen Malers Edward Hopper, der 1862 in New York geboren wurde und dort 1967 starb. Sein Thema war die Einsamkeit der Menschen in der Großstadt, 'Bilder der amerikanischen Seele' mit einem unbeirrbaren Blick auf gescheiterte menschliche Beziehungen. Dennoch sind sie voller Zuneigung, nicht zuletzt durch die Genauigkeit seiner Malweise, der Wahl der Farben und der Gestaltung des Lichtes, und sind getragen von der Sehnsucht, dieser verflixten Einsamkeit zu entkommen. Bilder von Edward Hopper geben die Anregungen für den neuen, zweiteiligen Ballettabend „Gesichter der Großstadt“ in Chemnitz von Chefchoreograf Rainer Feistel und Yiming Xu als Gast aus China.
Weil Hoppers Bilder immer auch etwas von einer festgehaltenen Szene an Orten haben, zu denen die Menschen gekommen sind, die sie auch wieder verlassen werden, versucht Rainer Feistel im ersten Teil des Abends mit den Mitteln des Tanzes diese Wege mit ihnen zu gehen. Dabei ist seine Choreografie von großer Zuneigung getragen, die wiederum der des Malers entspricht. Die Einsamen werden nicht bloßgestellt, ihre Tragik wird nicht ausgestellt, in keinem Moment werden sie vorgeführt. Feistels Choreografie geht von jenen Nachtschwärmern des Bildes aus, die am Ende wieder an der Bar sitzen, nachdem ihre Versuche gescheitert sind, der Einsamkeit zu entrinnen.
Dieses Thema wird tänzerisch höchst sensibel variiert durch Bezüge zu weiteren Bildern von Edward Hopper wie „Automat“ mit der einsamen Frau im Café oder „Morning Sun“, auf dem der Blick einer Frau, kurz nach dem Erwachen, dem Morgenlicht zugewandt ist und dennoch sonderbar nach Innen gerichtet zu sein scheint. Hoppers Menschen und Feistels elf Tänzerinnen und Tänzer können nicht zusammen kommen, zu sehr sind sie bei sich. Auch wenn sie in wenigen Momenten zusammen tanzen, so tanzt doch jeder eigentlich für sich allein. So gelingt es dem Choreografen immer wieder, ausgehend von der großen Zuneigung, mit der Hopper seine Menschen malte, sie den Zuschauern auch durch den Tanz nahe zu bringen, und dies ohne jeden Anflug von Sentimentalität. Das ist sehr berührend.
Feistel gelingt eine sehr persönliche choreografische Annäherung, die im ersten Teil des Abends am Ballett Chemnitz rundum überzeugt. Große Momente der Bewegung wechseln mit intimen Szenen eines Kammerspiels - etwa in einer Szene die ausgestreckte Hand eines Tänzers, die nicht berührt wird, worauf minimale Bewegungen der Finger, wie ein letzter Versuch intime Signale auszusenden, folgen. Der Ausstatter Hans Winkler hat Räume nach Hoppers Bildern gebaut und auch diese wirken noch einmal verloren in der bedrohlichen Schwärze der großen Bühne des Chemnitzer Opernhauses. Für die Kostüme hat er Farben und Vorgaben der Gemälde verwendet. So wie sich die Dramaturgie der Optik, mit der Szene der Nachtschwärmer in der Bar zu Beginn und am Ende, aufbaut, erschließt sich auch die der ausgewählten Musik, die mit einem Song von Frank Sinatra beginnt und ausklingt. Zudem gibt es neben Musik aus Michael Nymans zweitem Streichquartett Zuspielungen weniger bekannter Klänge von Danny Elfman, Ludovico Einaudi, Paul Lansky oder Olafur Arnolds.
Die zweite Choreografie des Abends von Yiming Xu klingt mit einer leicht verjazzten Fassung von Gershwins „Summertime“ aus, sonst verwendet der Gast aus China vor allem Titel von Keith Kenniff, einem 35-Jährigen Komponisten, bei dem Jazz und Rock zusammenklingen, wenn man so will auch amerikanische Einsamkeit, nur eben im 21. Jahrhundert.
Im Gegensatz zu Rainer Feistel, der schon seit etlichen Jahren von Bildern Edward Hoppers fasziniert ist, kannte Yiming Xu diese Bilder nicht vor seinem Auftrag, mit der Chemnitzer Kompanie zu arbeiten. So widmet er sich auch nicht direkt einem oder mehreren der Bilder, sondern versucht sich eher abstrakt und allgemein der Thematik anzunähern. Das beginnt mit einem fast expressionistisch anmutenden Bild, verliert sich aber zunehmend in einer Abfolge von Situationen, die den Anschein erwecken, bei der Abschlusspräsentation eines Workshops zu sein. Das weckt Erinnerungen an das schon seinerzeit kritisch zu sehende Gastspiel des Choreografen, der mit seiner eigenen Kompanie das letztjährige Festival „TANZ I MODERNE I TANZ“ in Chemnitz eröffnete.
Jetzt also Zittern, Schreien, bedeutungsaufgeladenes Schreiten, intensive Blicke ins Publikum, auch so etwas wie Atemübungen. Und dann aber, wenn man so etwas wahrnimmt wie einen Trauerzug der Einsamen, blitzen Momente auf, wie es hätte werden können - müsste der eingeladene Choreograf nicht vor allem eine ihm zugedachte, anhand dessen was zu erleben ist, nicht ganz nachvollziehbare Aufgabe erfüllen. In Yiming Xus Stück sind es vor allem die Chemnitzer Tänzerinnen und Tänzer, die mit der Kraft ihres persönlichen Engagements und der Individualität ihrer Präsenz überzeugen können.
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