Ein überfälliges Thema
Dokumentarfilm „Becoming Giulia“ läuft ab 18. Januar in den Kinos
Christian Spucks „Der Sandmann“ in Zürich – ein geglücktes Literaturballett
Was würde E.T.A.Hoffmann (1776-1822) zu diesem „Sandmann“ sagen? Vermutlich wäre er entzückt über das gleichnamige Ballett von Christian Spuck, das sich auf eine der schwarzromantischen Erzählungen des Dichters bezieht. Und wäre angetan vom Ballett Zürich, wie es seine Figuren in Bewegung versetzt. Richtig begeistert hätten ihn der schlaksige Nachwuchstänzer Matthew Knight (Nathanael), die Solistin Katja Wünsche (Clara) und der Star des Abends, Viktorina Kapitonova (Olimpia).
Hoffmanns Vision der Automaten-Puppe Olimpia, die mit Hilfe ihres Erfinders Spalanzani (Filipe Portugal) so frappant Leben vortäuschen kann, dass ihr die Männer verfallen: Sie ist schon im 19. Jahrhundert in diverse Bühnenwerke aufgenommen worden. So als Sängerin in Jacques Offenbachs Oper „Hoffmanns Erzählungen“ (1881) und als Lockvogel in Léo Delibes berühmtem Handlungsballett „Coppelia“ (1870). Zumindest hier hat sich Hoffmanns Nachtstück aber in harmlos-komische Wonne aufgelöst.
Man muss die Erzählung „Der Sandmann“ nicht gelesen haben, um den Inhalt von Spucks Ballett zu verstehen. Er ist in groben Zügen auch im Programmheft festgehalten. Wenn man die Geschichte aber kennt, gerät man ins Staunen, wie gut die Stimmung der Schauerromantik getroffen wird – die Atmosphäre zwischen Wahnsinn und Wirklichkeit mit ihren Rätseln, die auch Hoffmann selbst nicht auflöst. Wobei das Unheimliche ein paar lustige Scherze nicht ausschließt.
Zu Beginn des Balletts stehen die Tänzerinnen und Tänzer auf der Bühne, regungslos, in malerisch verteilter Weise – wie für den Fotografen arrangiert. Dann gerät allmählich Bewegung in die Menge, Einzelfiguren und ganze Gruppen lösen sich heraus. Fortan treffen sich Dorfbewohner in klobigen Schuhen zum Tanz – keineswegs herzig wie in „Coppelia“, sondern eher derb und schwerfällig. Später, beim Ball in Spalanzanis Haus, sind dann feinere Formen angesagt, die Damen alle auf Spitze.
Die für Kostüme zuständige Emma Ryott, eine enge Mitarbeiterin von Spuck, kleidet die Tanzenden in dunkle Stoffe: mit leicht farbigem Einschlag bei den Dörflern, mit glänzendem Schwarz und elegantem Schnitt in der Ballszene. Auch Nathanael und seine Freunde tragen dunkle Anzüge. Von Kopf bis Fuss in Schwarz gehüllt sind schliesslich die beiden unheimlichsten Figuren in Hoffmanns Erzählung, der Advokat-Alchimist Coppelius (Dominik Slavkovsky) und der Wetterglashändler Coppola (William Moore). Die beiden gleichen sich aufs Haar, bewegen sich aber leicht unterschiedlich – gebückt und auf Storchenbeinen der erste, in teuflisch entfesselten Verrenkungen der zweite. Moore, nach langer Verletzungszeit wieder zurück im Ballett, legt damit ein brillantes Paradestück auf die Bühne.
Vielleicht etwas viel Schwarzgekleidete, wie in Spucks Ballettwerken schon oft und nicht immer gern gesehen! Farb-Akzente setzten dann immerhin zwei kleine, zwillingshaft wirkende Mädchen in bunten Blumenröcklein, die Schwestern Nathanaels mimend. Dessen Geliebte Clara mit den Apfelbäckchen, die Verkörperung des biedermeierlichen Bürgertums, anmutig und vernünftig, trägt ein blaues Kleid mit weissem Kragen. Und die verführerische Olimpia prangt in weinroter Corsage und Tutu, die sich exzellent von ihrem porzellanweissen Körper abheben.
Höhepunkte in Spucks „Der Sandmann“ sind drei Pas de Deux, die den bebrillten Nathanael alias Matthew Knight ordentlich fordern, physisch und ausdrucksmässig. Doch er schafft es gut. Zuerst bewegen sich Clara und er, das ursprüngliche Liebespaar, in gefälliger Klassik; doch bereits leidet er unter ersten Wahnvorstellungen. Beim Duett mit seiner neuen Leidenschaft Olimpia richten sich dann alle Augen auf sie. Sie tanzt mit verführerischer Raffinesse, treibt ihre Künste auf die Spitze, irritiert aber zunehmend durch falsche Koordination - und zwischendurch geht ihr der Schnauf aus. Dann sinkt sie zusammen oder fällt gar flach auf den Boden. Nathanael hebt und stützt sie, trägt sie auf einen Stuhl, vergräbt sein Gesicht in ihren Schoss. Eine herausragend choreografierte Szene, sozusagen das Herzstück des Balletts, von Kapitonova hinreissend getanzt.
Im dritten Pas de Deux, nachdem Student Nathanael begriffen hat, dass Olimpia nur eine Puppe ist, verliert er die Kontrolle. Er verwechselt die beiden Frauen, tanzt mit Clara, als sei diese ein Automat. Reißt sie herum, verrenkt ihr die Glieder, erniedrigt sie. Er ist endgültig von Wahnsinn befallen. Während sich Nathanael in der Erzählung von E.T.H.Hoffmann von einem Turm stürzt, sinkt er im Ballett nach einigen Irrläufen tot zu Boden.
Das Zürcher Opernhaus bietet für Spucks „Sandmann“, vor zehn Jahren mit dem Stuttgarter Ballett uraufgeführt und seither stark überarbeitet, einen großzügigen Rahmen. Dirk Becker hat ein neues, stimmiges Bühnenbild kreiert: Er verlegt das Labor von Spalanzani in eine Glasveranda auf dem Bühnenhintergrund. Sie ist voller geheimnisvoller Gegenstände, lässt sich öffnen und schließen. Die Erinnerungen Nathanaels an seine Eltern und den gefürchteten Coppelius, der bei einem Experiment den Vater getötet und den Sohn misshandelt hat, spielen in einem bürgerlichen Zimmer-Schaukasten. Der lässt sich von oben auf die Bühne herab seilen. Ein Detail: Das Schaukelpferd, auf dem der kleine Nathanael zuhause wackelt, entdeckt man später in Spalanzanis Labor, durch unsichtbare Kräfte bewegt.
Als Musik hat Spuck Kompositionen von Robert Schumann (einem Hoffmann-Verehrer) und von Alfred Schnittke gewählt. Martin Donner, auch er regelmässiger Mitarbeiter des Zürcher Ballettchefs, hat die verschiedenen Kompositionen arrangiert und mit eigenen Schwerpunkten versehen. Musik also aus drei Jahrhunderten. Der Pianist Adrian Oetiker gibt feinsinnig diverse Schumann-Stücke zum Besten. Er und vier erstklassige Streicher aus der Philharmonia spielen je einen Satz aus dem Klavierquintett Es-Dur und dem -quartett e-Moll. Die fünf Musizierenden sind hinten auf der Bühne platziert.
Derweilen spielt im Orchestergraben ein riesiges Ensemble Auszüge aus Filmmusik oder Sinfonischen Werken von Schnittke. Eine zerrissene und intensive Musik, die gewiss nicht fürs Ballett gedacht war. Unter dem Dirigent Riccardo Minasi klappt die Beziehung zur Bühne aber hervorragend.
In Hoffmanns Nachtstück „Der Sandmann“ (1817) folgt nach der Beschreibung von Nathanaels Tod ein tröstlicher letzter Abschnitt: Die liebenswürdige Clara sei ein paar Jahre später gesehen worden, mit einem freundlichen Mann und zwei kleinen Knaben. Bei Spuck fehlt diese Beruhigungsszene. Dafür Applaus, starker Applaus des Publikums für alle Mitwirkenden.
Premiere 28.5.2016, www.opernhaus.ch
Noch keine Beiträge
basierend auf den Schlüsselwörtern
Please login to post comments