„Das Lied von der Erde“ von John Neumeier. Tanz: Helene Bouchet und Sascha Trusch

„Das Lied von der Erde“ von John Neumeier. Tanz: Helene Bouchet und Sascha Trusch

Hymne auf den Kreislauf des Lebens

Grandios: „Das Lied von der Erde“ am Hamburg Ballett

Schon im März 2015 hatte John Neumeier seine Fassung von Gustav Mahlers sechsteiligem, auf chinesischen Gedichten basierendem Liederzyklus „Das Lied von der Erde“ mit der Pariser Oper auf die Bühne gebracht.

Hamburg, 06/12/2016

Schon im März 2015 hatte John Neumeier seine Fassung von Gustav Mahlers sechsteiligem, auf sieben chinesischen Gedichten aus dem 8. Jahrhundert basierendem Liederzyklus „Das Lied von der Erde“ mit der Pariser Oper auf die Bühne gebracht, fünfzig Jahre, nachdem er selbst in Kenneth MacMillans Choreografie für das Stuttgarter Ballett getanzt hatte. Lange Zeit sei es ihm nicht möglich gewesen, sich „im Schatten des Meisterwerks von MacMillan mit der gleichen Musik Mahlers zu befassen“, sagt er in einem im Programmheft abgedruckten Interview. Nach 15 eigenen Mahler-Choreografien war es dann aber im Februar 2015 in Paris soweit. Jetzt hat Neumeier das Werk mit seiner eigenen Kompanie in Hamburg noch einmal neu erarbeitet.

Das Hauptthema von Mahlers Liedzyklus ist der ewige Kreislauf des Lebens: Geburt und Tod, das zwingend notwendige Sterben, damit Neues auferstehen kann; die Verbundenheit des Menschen mit der Natur, mit den archaischen Gesetzmäßigkeiten des Seins. Wie mit einem Brennglas leuchtet er dabei Lust und Leid ebenso aus wie die Verbundenheit mit den Zyklen der Natur, die Mahler immer heilig war. Die Musik spiegelt den Schmerz um den Verlust der ältesten Tochter ebenso wie die eigene Endlichkeit (kurz zuvor hatten die Ärzte bei Mahler eine schwere Herzerkrankung festgestellt, die Uraufführung des Liederzyklus erlebte er schon nicht mehr).

Es scheint, als habe Neumeier hier all sein Wissen, seine Erfahrung, seine Lebensweisheit, seine Melancholie, aber auch seinen Humor und seine Zuversicht in diese Choreografie einfließen lassen, um sie (vor allem im 6. Lied) in einem ewigen Lobgesang auf die Liebe und die Unendlichkeit von Werden, Sein, Vergehen münden zu lassen. Kurzum: Dieses 16. Neumeier-Werk zu Musik von Gustav Mahler ist grandios, sowohl, was die Bewegungskomposition betrifft, als auch die gesamte Inszenierung, es ist ein ganz eigenständiges Meisterwerk und mithin ein Vermächtnis, ein Kondensat aus Neumeiers Schaffenskraft. Der Hamburger Ballettintendant findet hier eine expressive Bewegungssprache, die nie der Versuchung erliegt, pathetisch oder weihevoll zu werden. Er spickt das Stück mit einer Vielzahl oft wie flüchtig dahingehauchter detaillierter Anspielungen und Gesten. Und wie so oft bei Neumeier kann man sie bzw. das Stück in all seinen Dimensionen gar nicht beim ersten Schauen erfassen, dafür muss man es viele Male sehen. Und doch übt es schon beim ersten Mal eine fast magische Faszination aus.

Das beginnt schon mit dem Prolog in Stille, bei dem die drei Hauptprotagonisten – ein Mann (Alexandr Trusch), sein Schatten oder Alter Ego (Karen Azatyan) und eine Frau (Hélène Bouchet) – in langsamen, tastend-suchenden Bewegungen nacheinander die in irisierendes Blau getauchte Bühne in Besitz nehmen, diesen auf ein absolutes Minimum reduzierten Schauplatz des Geschehens. Eine schiefe Ebene, mit Kunstrasen belegt, ist das einzige Element auf dem Boden, das nach Bedarf hin- und hergeschoben wird, bis es schließlich ganz in den Gassen verschwindet. Den Hintergrund machen zwei große voreinander gestaffelte Prospekte aus, die unterschiedliche Oberflächen darstellen: mal eine wie aus Backsteinen roh zusammengesetzte Wand, mal eine Farbfläche. Über allem ein bewegliches Objekt, das Mond und Sonne zugleich sein kann, je nachdem, welche Situation beschienen werden soll, sowie ein großer trapezförmiger Spiegel. Für dieses reduzierte Bühnenbild zeichnet Neumeier ebenso verantwortlich wie für die raffinierte Lichtregie und die schlichten Kostüme (Jeans und Shirt, fließende Hosenanzüge und zum Schluss lange, seitlich geschlitzte Gewänder in gedeckten Farben).

Noch bevor das Orchester einsetzt, erklingt Klaviermusik, es sind Fragmente aus der Klavierfassung des 6. Satzes. Damit schlägt Neumeier einen Bogen zum Schluss des Werks – ein weiteres Symbol für den ewigen Kreislaufs des Lebens. Auch hat der Anfang durch diesen Kunstgriff zeitlich gesehen die gleiche Länge wie der Schluss. Nach diesem ruhigen Prolog beginnt dann der eigentliche Liedzyklus: „Das Trinklied vom Jammer der Erde“, „Der Einsame im Herbst“, „Von der Jugend“, „Von der Schönheit“, „Der Trunkene im Frühling“ und schließlich: „Der Abschied“. Neumeier setzt Text und Musik kongenial in Bewegung um, und seine Tänzerinnen und Tänzer folgen ihm dabei mit dem Einfühlungsvermögen und der intuitiven Sicherheit, wie sie nur entstehen kann, wenn eine Kompanie viele Jahre lang mit einem Choreografen zusammenarbeitet. Allen voran Sascha Trusch, gesegnet mit einer zwingenden Bühnenpräsenz und phänomenaler Technik. Er erfüllt diesen schwierigen Part mit einer für seine jungen Jahre erstaunlichen Reife und Kraft. Ihm zur Seite ein nicht minder präsenter und sicherer Karen Azatyan, der sich inzwischen zu einem Darsteller ersten Ranges entwickelt hat. Und dann Hélène Bouchet, diese wunderbar langgliedrige, elegante Tänzerin, die eine in sich gesammelte Gelassenheit und würdevoll-unaufdringliche, raumfüllende Ruhe verströmt. Das ist ganz große Tanzkunst.

Wunderbar auch Xue Lin, die ihren Part als Symbolfigur für die Schönheit mit einer glasklaren inneren Kraft erfüllt, gänzlich frei von jedem Pathos und dadurch umso eindrücklicher, ganz zu schweigen von ihrer blitzsauberen Technik. Oder Mayo Arii und Jacopo Belussi, Symbolfiguren für die Jugend, mit ihrer überschäumenden Heiterkeit und Spielfreude. Christopher Evans und Aleix Martínez brillieren zusammen mit Karen Azatyan als frühlingstrunkene Jungs. Aber auch das gesamte Ensemble folgt der vielfältigen, wie immer mit vielen Schwierigkeiten ausgestatteten Choreografie Neumeiers mit traumwandlerischer Sicherheit und Prägnanz.

Simon Hewett leitet das Philharmonische Staatsorchester mit ruhiger Hand und bringt gerade auch die leisen Stellen zum Leuchten. Klaus Florian Vogt singt die Tenorpartie mit großer Kraft, während Michael Kupfer-Radecky (Bariton) neben ihm verblasst und vor allem in den höheren Lagen kläglich scheitert. Das ist umso bedauerlicher, als ihm mit dem letzten Lied („Der Abschied“) eine besondere Verantwortung zukommt, der er leider in keiner Weise gerecht wird.
 

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