Isabell Arnke als Kleiner Prinz und Justin Rimke als Saint-Exupéry in „Der Kleine Prinz“ von Gregor Seyffert
Isabell Arnke als Kleiner Prinz und Justin Rimke als Saint-Exupéry in „Der Kleine Prinz“ von Gregor Seyffert

Im Blick die Zukunft, auf den Fundamenten der Tradition

Ein Tag in der Staatlichen Ballettschule Berlin

Die Vielseitigkeit der Berliner Tanzstudierenden ist beeindruckend. Woran das liegt, fragt Boris Gruhl und begibt sich auf Spurensuche.

Berlin, 12/09/2016

Ganz aktuell, im Jahrbuch der Fachzeitschrift „tanz“, in der jährlich mit Spannung erwarteten, internationalen Kritikerumfrage, mit über 40 Statements aus den Zentren des Balletts und des Tanzes wie z. B. Amsterdam, Berlin, Kopenhagen, London, Moskau, München, New York, Paris, Stuttgart, Tel Aviv, Wien oder Zürich, benennt die Berliner Tanzkritikerin und Rundfunkjournalistin Claudia Henne einen Absolventen der Staatlichen Ballettschule Berlin als ihren Tänzer des Jahres. Für sie ist der brasilianische Tänzer Glauber Mendes Silva ein Ausnahmetalent. Gemeinsam mit 15 Tänzerinnen und Tänzern hat er die Ausbildung an der Staatlichen Ballettschule abgeschlossen. Alle können mit erfolgreichen Abschlüssen ihre Schritte in die Zukunft wagen. Der Tanz kann beginnen, auf den Bühnen der Welt, im wahrsten Sinne des Wortes, denn die Engagements führen die Berliner nach Bordeaux, nach Dessau, Dortmund oder Mainz, nach Rom oder Marseille, an das Staatsballett in Berlin oder in die Juniorkompanie des Bayerischen Staatsballetts nach München. Diese Kompanien sind zu beglückwünschen, denn für die Dresdner Tanzkritikerin Gabriele Gorgas, „muss man sich um künftige tänzerische Qualitäten wenig sorgen, wenn es ein solches Nachwuchspotenzial gibt.“ Dies schrieb sie als sie Berliner AbsolventInnen in der Choreografie „All Long Dem Day“ von Marco Goecke in der Gala zum 25-jährigen Jubiläum der Tanzwoche Dresden sah.

Claudia Henne sah Glauber Mendes Silva u. a. in Choreografien von Uwe Scholz in einer von der Bundeskulturstiftung im Rahmen des Projektes Tanzfonds ERBE geförderten Kooperation des Staatsballetts Cottbus mit der Staatlichen Ballettschule unter dem Titel „Im Fluss der Zeit“. Hier, bei Uwe Scholz, die höchsten Ansprüche neoklassischer Tanzkunst. Dort, bei Marco Goecke, die expressive Explosion innerer Spannungen, die sich in den wie Blitze in alle Richtungen geschleuderten Armen der Tänzer entlädt. Hier wie da, die jungen Tänzerinnen und Tänzer stellen ihre Fähigkeiten, den zeitgemäßen Ansprüchen an das Ballett der Gegenwart gerecht zu werden, unter Beweis. Und sie stellen unter Beweis, dass ihnen beste klassische Grundlagen in der Ausbildung vermittelt wurden, dass die Kreativität des individuellen Ausdrucks dadurch in keiner Weise eingeschränkt wurde. Im Gegenteil, sie tanzen eine Kreation wie „Oktett“ von Uwe Scholz aus dem Jahre 1987 mit dem unverstellten Anspruch junger Menschen von heute, denen selbstverständlich romantische Emotionen, wie sie der Choreograf mit der Musik von Mendelssohn-Bartholdys Jugendwerk zu vermitteln wusste, sehr nahe sind. Und mit der gleichen, natürlich anders gelenkten Ausdruckskraft, interpretieren sie Marco Goeckes Aufschrei des Tanzes, in dessen „geheimnisvoll mit Licht und Dunkel, Entschwinden und Auftauchen spielender“ Choreografie, wie Gabriele Gorgas schreibt. Da stellt sich schon die Frage, wie bekommt das eine Ausbildung zusammen, die sich dem Anspruch stellt, BühnentänzerInnen für die Zukunft des Balletts mit dem ganzen Reichtum möglicher Facetten des Tanzes zu befähigen.

Ein Tag in der Staatlichen Ballettschule kann sicher nicht in allen Einzelheiten vermitteln, wie hier versucht wird, was der Künstlerische Leiter, Professor Gregor Seyffert, als Anspruch beschreibt: „Traditionen bewahren - Neues wagen“. Damit will er auch sagen, dass es in der Kunst des Tanzes keine Gegenwart und schon gar keine Zukunft geben kann, die sich von ihren Voraussetzungen löst und vor allem die der tanztechnischen Grundlagen vernachlässigt. Als Beispiel, wie dies gelingen kann, verweist er auf die Arbeit eines Choreografen wie Martin Schläpfer mit dem Ballett am Rhein, dem man wahrhaft nicht nachsagen kann, dass er sich der Moderne gegenüber verweigere. Im Gegenteil, er erkundet mit Neugier und Kreativität immer neue Chancen des Balletts und stellt sie dennoch in den Kontext der Traditionen, in dieser Saison setzt er Bournonville in einen Abend mit Antony Tudor und Terence Kohler, eine eigene Uraufführung kombiniert er mit Balanchines „Mozartiana“ und Jerome Robbins „The Concert“. Aber ein ganzer Tag, von früh, kurz vor 7.00 Uhr, bis zum Abend, gegen 22.00 Uhr, gibt Einblick, vermittelt Anregungen und weckt auf jeden Fall die Neugier, möglichst bald, einige der jetzt gerade in die Zukunft entlassenen AbsolventInnen in Aufführungen an der Seite ihrer erfahreneren Kolleginnen und Kollegen zu erleben.

Die Staatliche Ballettschule in ihren neuen Räumen, großzügig und lichtdurchflutet, große Fenster bieten Ein- und Ausblicke, vermittelt Offenheit. Diese Art der Offenheit bestimmt am Tag des Besuches auch die Eindrücke bei den unterschiedlichsten Einheiten des Unterrichts oder der Proben. Vorbei an den Jüngsten, die, längst bevor der Unterricht beginnt, konzentriert trainieren und sich aufwärmen, geht es zunächst in eine Unterrichtseinheit des modernen Tanzes. Eine Gruppe 13- und 14-jähriger Schüler wird von Jean-Hugues Assohoto unterrichtet. In dieser Stunde vermittelt er den Mut, es zu wagen aus dem Empfinden der Musik die Kraft, in Kombination mit den Assoziationen des Beats, mit allen Möglichkeiten des Ausdrucks in den Körper einzulassen, um dann in einem expressiven Sprung der Energie Lauf zu lassen. Dabei ist es dem Lehrer wichtig, immer wieder darauf zu achten, dass es um Authentizität geht, nicht um Posen, dass vor allem auch der Ausdruck des modernen Tanzes frei ist von jeder Art der Beliebigkeit oder des Klischees.

Das beschreibt auch Professor Dr. Ralf Stabel, Direktor der Staatlichen Ballettschule Berlin. Es kommt darauf an, selbstbewusste AbsolventInnen auszubilden, die dann nicht aus Verzweiflung in irgendein Engagement gehen. Im günstigsten Falle haben sie sogar Chancen der Auswahl, und es liegt in der Verantwortung der Schule, ihrer Lehrerinnen und Lehrer sie mit „Virtuosität und Körperwissen“ zu entlassen, um ihnen die Chancen zu eröffnen, Kompanien oder Institutionen zu finden, die zu ihnen passen. Das kann im speziellen Fall auch heißen, dass man einen Absolventen ermutigt, sich künftig dem Tanz in ganz spezieller Ausrichtung zu widmen, wie dem Münchner Indra Stark, mit jamaikanischen Wurzeln vonseiten des Vaters und italienischen seitens der Mutter, der nach einer Ausbildung an der Heinz-Bosl-Stiftung in seiner Heimatstadt noch für fünf Jahre nach Berlin kam. Gefragt, wie es für ihn nach Abschluss der Ausbildung weiter gehe, sagt er „Ich werde in keinem Ballettensemble tanzen, sondern in einem Varietétheater in München. Dort kann ich Tanz mit Akrobatik verbinden und das ist meine Stärke“. Zudem hat er hier auch die Chance eigene Choreografien zu entwickeln.

Das ist eines von den wichtigen Beispielen, wie es darauf ankommt, Talente zu erkennen und dann zu fördern. Dazu bedarf es der Sensibilität des Lehrkörpers. Spricht man mit den Studierenden, mit den AbsolventInnen, dann wird immer wieder ein Name genannt, Olaf Höfer. Ihn nennt auch Indra Stark, „Auf jeden Fall Herr Höfer“, sagt er, denn er könne „Jungs groß machen“. Das ist bei ihm gelungen, denn seine Voraussetzungen in klassischer Technik waren nicht die besten, sie wurden besser, ein klassischer Tänzer wird er nicht, aber ein Tänzer, der seinen speziellen Begabungen folgen kann, und das spricht wiederum für das Konzept der Schule und ihrer Lehrer, Olaf Höfer zum Beispiel. Und wie das geht, das erlebt man etwa im Training klassischer Techniken dieses Lehrers, ganz individuell, in einer kleinen Gruppe, fünf Schüler, 18, 19 und 20 Jahre alt.

Ernsthaft muss es sein, aber nicht zu ernst, sagt er. Er ermutigt die Tänzer zu kraftvollen Pirouetten und weit in die Höhe geführten Jetés, dabei strahlt er selbst Ruhe aus, vermittelt Gelassenheit. Daraus erwächst Kraft, Hektik hat in dieser Kunst des Unterrichtens keinen Platz. Ja klar, Korrekturen müssen sein, Wiederholungen auch, Begründungen sind in jedem Falle gar nicht nötig, die jungen Tänzer haben offensichtlich auch gelernt ganz gut einzuschätzen, was ihnen gelungen ist und was nicht. Ähnliche Erfahrungen und Eindrücke vermittelt eine Unterrichtsstunde bei Heike Keller mit acht jungen Tänzerinnen, die sie gerade in neoklassischer Manier auf der halben Spitze unterrichtet. Es geht um Kombinationen, Varianten, Haltungen, auch hier um die Korrespondenz der jeweiligen persönlichen Ausstrahlung und der künstlerischen Ausformung unbedingter, technischer Ansprüche. Ganz nebenbei vermittelt Heike Keller auch ein gutes Gespür für dramaturgisches Denken, das aber vermag sie regelrecht subversiv wirken zu lassen, denn die Dynamik der Unterrichtsstunde erschließt sich im individuellen Erlebnis der Tänzerinnen und in diesem Falle auch des Zuschauers.

Zum Unterricht gehören auch Proben. Denn immer wieder tanzen Schülerinnen und Schüler der Staatlichen Ballettschule Berlin in großen Produktionen renommierter Ballettkompanien. So etwa beim Ballett der Oper Leipzig, wo man mit 40 Mitgliedern nicht in der Lage wäre, eine große Choreografie von Uwe Scholz, wie die zum 3. Klavierkonzert von Rachmaninov zu besetzen. Christoph Böhm, einst selbst bevorzugter Solist von Uwe Scholz in Leipzig, studiert mit Schülerpaaren für die Wiederaufnahmepremiere in Leipzig. Man wird auch sie, wie schon zuvor in der Premiere, nicht unterscheiden können von den ‚Profis’. Unter den Tänzerinnen und Tänzern sind auch Alicia Ruben und Justin Rimke, für beide steht fest, wie es weiter gehen wird und beide sind höchst erfreut, denn ihre Wünsche haben sich erst einmal erfüllt. Alicia Ruben gehört jetzt zum Corps de Ballet des Berliner Staatsballett und Justin Rimke zum Juniorballett des Balletts der Bayerischen Staatsoper und könnte schon bald als eine der skurrilen Figuren in der Rekonstruktion von Oskar Schlemmers „Das Triadische Ballett“ zu erleben sein. Und wie fühlen sie sich auf ihre künftigen Herausforderungen nach jeweils zehn Jahren Ausbildung an dieser Schule vorbereitet? Für Alicia Ruben zählt die Erkenntnis, welchen Wert für sie Disziplin hat, denn ohne diese hätte sie es wahrscheinlich nicht schaffen können, dem eigenen Willen, Tänzerin zu werden, gerecht zu werden. Wichtig für sie waren in der Rückschau das Zusammengehen von Unterricht und Praxis, die motivierende Begleitung der Lehrenden, die ersten Herausforderungen in der Öffentlichkeit bei Auftritten in den jährlichen Galas der Ballettschule oder in Gregor Seyfferts „Der Kleine Prinz“.

Justin Rimke tanzte in dieser Choreografie die Rolle des Autors Saint-Exupéry. Wichtig ist für ihn in der Rückschau auf die Jahre der Ausbildung die so ganz auf seine Persönlichkeit abgestimmte fordernde Förderung, die er durch seine Lehrer erfahren hat: „Ich wollte immer zum Bayerischen Staatsballett und meine Lehrerinnen und Lehrer, zu denen vor allem Frau Wirsching, Frau Baum-Höfer und Herr Höfer gehörten, haben mich super darauf vorbereitet“. Und das sagt einer, der zugleich davon sprechen kann, dass er zwar die Leidenschaft für den Tanz mitbrachte, aber nicht gerade optimale, körperliche Voraussetzungen, „aber meine Pädagogen haben mich sehr gepusht und mir immer das Gefühl gegeben, dass ich alles erreichen kann.“

Mit einer solchen Aussage lässt sich gut zusammenfassen, was die Eindrücke eines langen Tages in der Staatlichen Ballettschule Berlin am stärksten geprägt hat: diese unbedingte Zuneigung zu den Schülerinnen und Schülern, geprägt von der Verantwortung, die jeder Lehrende gerade im Hinblick auf junge Tänzerinnen und Tänzer in besonderer Weise übernimmt. Dazu gehört auch von Beginn an die Verführung zur Eigenständigkeit. Das lässt sich noch am späten Abend beobachten, wenn Gregor Seyffert und sein Team eine Wiederaufnahmeprobe für seine Choreografie „Der Kleine Prinz“ leiten. Da sind etliche Um- und Neubesetzungen zu motivieren, und das am Ende eines langen Tages. Aber es geht, vor allem ohne viele Anweisungen. Die Schülerinnen und Schüler, besonders in den Szenen der großen Gruppen, etwa als Reisende, sehen einander konzentriert zu. Da sind die einen, die haben’s schon getanzt, die anderen sollen es tanzen, also hinsehen, was macht die Tänzerin neben mir, wie mache ich das, aber so, dass ich es nicht einfach nachmache, sondern so, dass auch in der großen Gruppe ich es bin. Und langsam tanzen sie sich zusammen. Am Ende gibt es schon so etwas wie Erschöpfung, und diese gehört ja auch zum Ablauf eines kreativen Tages.

Und etliche Tage darauf, nach dem Abschluss des Examens, nachdem die Absolventinnen und Absolventen ihre Verträge unterschrieben haben, da erinnerte sich Olaf Höfer noch einmal, sicher auch stellvertretend für die Kolleginnen und Kollegen des Lehrkörpers, an das, was er den Schülerinnen und Schülern vermitteln wollte: „Ich habe immer versucht zu vermitteln, dass sie einerseits viele Dinge tun müssen, die ihnen vorgegeben oder gesagt werden, anderseits dürfen sie nie vergessen, dass sie selbst Persönlichkeiten sind. Sie sind einerseits eine Klasse, eine Gruppe und andererseits ist jede und jeder von ihnen eine sehr individuelle Persönlichkeit. Das habe ich versucht im Unterricht zu vermitteln und das - denke ich - wird sie weitertragen.“

Dem ist auch nach einem Besuch in der Staatlichen Ballettschule nichts hinzuzufügen, 15 kreative Stunden für den Besucher, unzählige Eindrücke, schönste Hoffnungen für den Tanz in seinen vielen Facetten, nicht zuletzt für das Ballett, dessen Möglichkeiten der Variationen längst nicht ausgereizt sind. Eigentlich müssten jetzt 15 Reisen folgen, um ihnen erneut zu begegnen, diesen hoffnungsvollen Absolventinnen und Absolventen.

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