„Figure Humaine“ von Sasha Waltz & Guests in der Elbphilharmonie Hamburg.

„Figure Humaine“ von Sasha Waltz & Guests in der Elbphilharmonie Hamburg.

Raum, Klang, Tanz

Initiation der Elbphilharmonie-Foyers mit Sasha Waltz & Guests' „Figure Humaine“

Ein Fest für Augen und Ohren: Mehr als zwei Stunden zelebrieren MusikerInnen, TänzerInnen, Chor-SängerInnen und das 600 Personen umfassende Publikum eine künstlerische Weihe, die in ihrer Art kongenial zu diesem Gebäude passt.

Hamburg, 02/01/2017

Schon vor Jahren habe Elbphilharmonie-Intendant Christoph Lieben-Seutter sie darauf angesprochen, etwas zur Einweihung des Gebäudes zu kreieren, erzählt Sasha Waltz bei einem Vorgespräch. Kein Wunder: Die designierte Ko-Direktorin des Staatsballett Berlin hatte schon mehrfach erfolgreich Museen und öffentliche Räume bespielt, z. B. das Neue Museum in Berlin, erbaut von David Chipperfield, das Museum der Künste des 21. Jahrhunderts MAXXI in Rom von Zaha Hadid oder das Jüdische Museum in Berlin von Daniel Libeskind. Dennoch stellte jetzt die Elbphilharmonie Sasha Waltz noch einmal vor ganz neue Herausforderungen, ist sie doch kein Museum mit Bildern und Skulpturen in geschlossenen Räumen, sondern ein Konzerthaus mit Foyers, die sich offen über sechs Stockwerke erstrecken. Alles ist miteinander verbunden und verläuft rund herum um das Herzstück in der Mitte: den Großen Saal. Die grandiose Architektur von Jacques Herzog und Pierre de Meuron bietet immer wieder neue Aus- und Einblicke, mit vielen Schrägen, stürzenden Wänden, kaskadenartigen Treppenverläufen und immer wieder dem Blick aus den großen Glasfenstern auf die – jetzt am Abend im Dunkeln glitzernde – Stadt und den Hamburger Hafen.

Der Große Saal, so Sasha Waltz, sei für sie wie eine „moderne Kathedrale“, ein Versammlungsraum, in dem Menschen zusammenkommen, um Musik zu hören. Wenn sie darin stehe, komme sie sich vor wie in einer gotischen Kirche, in der sie sich aber nicht – wie in den berühmten Gotteshäusern – klein fühle, sondern wohlig geborgen. Der Mensch dürfe hier Mensch bleiben, er werde nicht erschlagen von der Wucht des Gebäudes. Für sie sei die Hauptaufgabe gewesen, die Foyers als Hauptfigur zu betrachten, nicht den Saal als Ort, wo die Musik spiele.

Foyers sind naturgemäß ein flüchtiger Aufenthaltsort, sie dienen der Unterhaltung, der Vorfreude, der Pause, dem Nachklang. Das Ineinanderfließen dieser Räume über sechs Stockwerke hinweg sichtbar, fühlbar, hörbar zu machen, war die Herausforderung, vor der Sasha Waltz stand. Wo klingt die Musik besonders gut, wo verliert sie sich eher schwebend zwischen den Etagen? Wo gibt es Blickachsen, die die Tänzer nutzen können?

Am 1. Januar 2017, zehn Tage vor der offiziellen Eröffnung des neuen Wahrzeichens der Hansestadt, war es dann soweit: Unter dem Titel „Figure Humaine“ zelebrierten 10 MusikerInnen, 36 TänzerInnen, 37 Chor-SängerInnen und das 600 Personen umfassende Publikum eine etwas mehr als zwei Stunden dauernde künstlerische Weihe, die in dieser Art kongenial zu diesem Gebäude passte. Das musikalische Herzstück war „Figure Humaine“ von Francis Poulenc auf Verse von Paul Élouard. Es entstand mitten im zweiten Weltkrieg, und gipfelt am Schluss in einer Lobpreisung der Freiheit, einem Aufruf zur Versöhnung. Für Sasha Waltz bieten sich hier viele Parallelen zu unserer Zeit, in der immer wieder Krieg, Terror und Desorientierung, Angst und Entdemokratisierung die Menschen verunsichern. Es gelte, so begründet sie die Wahl dieser Musik, trotz aller Schwierigkeiten die Hoffnung nicht zu verlieren, und auch hinter düsteren Wolken die Sonne zu sehen. Sie sehe darin auch eine Parallele zu der an Problemen wahrlich nicht armen Zeit der Entstehung der Elbphilharmonie selbst – und erkennt in dem Stück von Poulenc „ein Manifest, wie man in dieser Zeit in der Welt stehen kann“. Und so ist „Figure Humaine“ eine Art gesamtkünstlerischer Initiationsritus, wie er passender für dieses Bauwerk nicht hätte sein können.

Der Abend beginnt im untersten Foyer auf dem 10. Stock, direkt über der für die Öffentlichkeit zugänglichen Plaza und dem Kleinen Saal. 600 Menschen verteilen sich erwartungsvoll über den offenen Raum und die ersten Treppenaufgänge. Das vorher leicht gedimmte Deckenlicht wird heller, und die ChorsängerInnen kommen über die Treppen singend nach unten, einzelne TänzerInnen verteilen sich zwischen den Zuschauern, steigen auf Geländer, erstarren zu Skulpturen, während sich zwei Stockwerke höher fünf TänzerInnen nebeneinander über die Balustrade beugen, sich wieder aufrichten, mit den Händen über den Putz streichen, fließend in der Bewegung. Nach den ersten Gesängen erklingen Glocken aus verschiedenen Richtungen – weitere TänzerInnen strömen die Treppen herab, verschmelzen mit dem Publikum, während die SängerInnen sich nach oben bewegen – und so kommt die Menschenmasse langsam in Fluss. Einzelne Zuschauer lösen sich heraus, fassen sich ein Herz und gehen mutig noch weiter nach oben – andere folgen, durchdringen die Räume. Immer wieder neue Klänge ertönen, Streicher, Schlagwerk, Trompete, Posaune, Akkordeon. Es geht weiter nach oben, überall tauchen jetzt Tänzer-Formationen auf, folgen den Musikern, nähern sich spielerisch den Zuschauern, beziehen sie mit ein in den Bewegungsfluss. Sasha Waltz arbeitet mit weit raumgreifenden Gesten, mit schnellen, körperbetonten Pas de Deux und kleinen Gruppen, es ist ein ständiges Kommen und Gehen, ein Miteinander, Zueinander, Auseinander und wieder Zurückfinden. Als die SängerInnen fürs Erste verschwinden, haben sich die Zuschauer weiträumig verteilt – und finden an verschiedensten Stellen etwas zu sehen und zu hören, Musik von Bach und Boccherini, aber auch Sofia Gubaidulina, William Flackton und Helmut Lachenmann, um nur einige zu nennen.

Und dann der Überraschungscoup: Die TürsteherInnen, die bisher die Zugänge zum Großen Saal verwehrten, öffnen die Pforten zum Herz des Gebäudes! Auf der Bühne stehen Notenpulte bereit und ein großes Xylophon. Die neun Musiker und die Mezzosopranistin kommen auf die Bühne. Und das Publikum hält kurz den Atem an: Wie jetzt? Gibt es etwa doch schon jetzt, noch vor der offiziellen Einweihung, eine Kostprobe der legendären Akustik dieses Saales?? Nein, natürlich nicht. Die Musiker verharren vor ihren Notenpulten in Stille – man hört nur das Atmen der Menschen, und der ganze Saal mit seiner magischen „weißen Haut“ atmet mit. Es ist ein heiliger Moment, eine Andacht, ein Innehalten im Nachklang des bisher Gehörten und Gesehenen. Und es ist hier John Cage: Sein berühmtes Werk „4:33“, in dem das Publikum die Musik macht – mit seiner Anwesenheit, seinem In-die-Stille-Hören.

Schließlich verlassen die MusikerInnen die Bühne wieder, die Notenpulte werden abgeräumt – Zeichen für die bisher in den ersten Rängen rund um die Bühne verteilten TänzerInnen, sich über die Sessel und Reihen zu bewegen, immer wieder innezuhalten und dann weiterzutanzen, bis sie unten im Parkett angekommen sind. Gut die Hälfte beginnt nun, die Bühne in Besitz zu nehmen, und aus der Gruppen schält sich mit der Zeit eine Bewegungsfolge für 17 TänzerInnen heraus, begleitet vom rhythmischen Auf- und Zuklappen der Sitze durch die verbliebenen KollegInnen im Parkett. Auch hier wieder ein fließendes Ineinandergleiten und Auseinanderdriften, und man wünscht sich nichts sehnlicher, als dass hierzu Musik erklinge.

Und dann zieht es die Menge wieder hinaus in die Foyers – wo jetzt nach der Harmonie und Stille und Schönheit dieses Großen Saales das Kontrastprogramm stattfindet: Aggression, Wut, schräge Klänge, eine Art Kampftanz einzelner TänzerInnen. Ganz oben und ganz hinten, in einer der äußersten Ecken, haben sich zwei ihres Kostüms entledigt und erstarren in verschiedenen Haltungen, während der Trompeter sein Instrument am Glas der Fensterfront reibt und damit eine ganz eigene Tonwelt erzeugt, begleitet von den Geräuschen, die die Tänzer selbst erzeugen: Hände klatschen mal auf nackte, mal auf bekleidete Körperstellen, Füße stampfen, Körper fallen. Vor dem 23 Meter langen schwarzen Tresen des Hauptfoyers dagegen spielerische Tête-à-têtes einer TänzerInnengruppe, bis plötzlich eine von Kopf bis Fuß in einen schwarzen Schleier verhüllte Person eindringt, durch das Publikum fegt, mit den TänzerInnen agiert, nach oben verschwindet, um gleich darauf wieder aufzutauchen und erneut für Erschrecken und Verstörung zu sorgen.

Von ganz oben kommt, die „Antiphonae de Spiritu Sanctu“ von Hildegard von Bingen singend, wie eine Hohepriesterin die Mezzosopranistin, eine Glocke in der Hand. Raum um Raum durchschreitend wandert sie nach unten, während das Publikum langsam folgt, ebenso die TänzerInnen, die sich Körperlänge um Körperlänge – Kopf an Kopf, Kopf an Fuß, Fuß an Fuß – wie eine lange Schlange über die Treppen hinabgleiten lassen, bis sich schließlich alle am Ausgangspunkt sammeln, wo jetzt auch wieder der Chor zum Finale zusammenkommt für den letzten Gesang: „Liberté“, die Ode an die Freiheit. Die in jeder Strophe wiederkehrende Zeile „J’écris ton nom“ (schreibe ich deinen Namen) nehmen die TänzerInnen wörtlich und schreiben mit Kreide auf Beinkleider, Röcke, Oberteile, sogar auf den Anzug des Chorleiters und der SängerInnen dieses eine Wort: FREIHEIT. Es ist ein großartiger Schlussakkord eines modernen Weiherituals, von dem man sich jetzt nur noch wünscht, dass es im Sommer wiederholt werde, wenn die Sonne durch die großen Fenster scheint und das ganze Werk durch die vielen Ausblicke zur Stadt und in den Hafen noch eine ganz neue, eigene Dimension erhalten könnte.

Weitere Vorstellungen noch bis zum 4. Januar – Restkarten nur noch an der Abendkasse (ab 90 Minuten vor der Vorstellung).

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