„enfant“ von Boris Charmatz

„enfant“ von Boris Charmatz

Parabel um die Befreiung des Kindes

Boris Charmatz verabschiedet sich mit „enfant“ in der Volksbühne

Das eindrucksvolle Stück geht der Kinderfeindlichkeit der Welt tänzerisch auf den Grund und ist zugleich ein Weckruf.

Berlin, 25/06/2018

Es ist ein zutiefst verstörendes Stück, mit dem Boris Charmatz die Tanzserie in der Volksbühne beendet. Dabei lässt der Titel „enfant“ (franz. für Kind), eher an ein putziges Erlebnis denken. Wer den einstündigen Gefühlstaumel schon 2012 im Gastspiel am Haus der Berliner Festspiele gesehen hat, ist gerüstet für diesen bestürzenden Weckruf an die Welt.

Freilich geht es darin um Kinder und um unseren Umgang mit ihnen in einer zunehmend kalt technisierten Umgebung. Am Anfang agiert nur ein Kran auf der bis zum weißen Rundhorizont leeren Bühne; mit Klicklaut beim Einrasten schwenkt er immer wieder seinen Leiterarm herum. In dieser bedrohlichen Techniködnis braucht es keinen Menschen mehr. Einer indes liegt bewegungslos und winzig auf einer Art Laufband, das sich nach hinten aufwellt. Zwei werden wie Tote an Seilen heran- und vom Kran wie Frachtgut hochgezogen, auch mal kopfunter nur an einem Bein. Dort pendeln sie dann wie Schweinehälften im Schlachthof.

Dieses Auf und Ab der Willenlosen geht eine Weile, bis sie auf dem Laufband abgelegt, von der Maschinerie darunter reichlich durchgerüttelt werden. Einer rutscht beim Erklimmen der Wand ständig ab. Nach und nach tragen andere Akteure Kinder auf die Szene, heben, stemmen, legen, traktieren sie, spielen Flieger mit ihnen, als hantierten sie in einer Bewegungswerkstatt mit Puppen. Kinder als Spielgeräte einer deformierten, herzlosen Erwachsenenwelt. Aus dem Off ertönt dazu Kindergeschrei wie bei einem Wettkampf oder einem Popkonzert; Michael Jacksons „Billie Jean“ mit der Kernaussage „he‘s not my son“ liegt leise darüber.

Dies Umschichten und Verdrehen der Kinderkörper mit den Füßen, behutsam zwar, dies Schleifen und Huckepackgehabe geht nervend lange, wird zum Plumpsackspiel mit Weiterreichen und gipfelt dann in einem albtraumhaft wilden Tanzexzess der erwachsenen Träger, bei dem die Kinder Fluchtversuche wagen, eingefangen und in Sakkos zu Paketen verschnürt werden. Als die Irren a cappella singen, befreien sich die Kinder, stimmen mit ein, gewinnen bald die Oberhand; ein Dudelsackspieler geistert betont langsam durch das Gewühl. Wie Vogeljunge trampeln und girren da die Kinder und gliedern sich in einen kreisförmigen Bewegungsstrudel ein, der auf dem Boden endet: als eine Schar auf dem Rücken liegender, hilflos strampelnder Käfer – welch eine Metapher!

Wie einem Rattenfänger von Berlin schließen sich dann alle dem Dudelsackspieler zum gespenstischen Umzug an, als sei nun der Veitstanz ausgebrochen. Auch die Erwachsenen, mittlerweile mit freiem Oberkörper, tanzen taub und blind im Wirbel mit, rasen durcheinander. Die Musik wird zum Gedröhn, den Spieler zieht einbeinig der Kran hoch – da schlägt die Situation unerwartet und doch sehnlich herbeigewünscht um. Die neun Erwachsenen liegen erschöpft auf dem Boden, die 15 Kinder beginnen mit demselben kruden Spiel, zerren, stapeln und verdrehen ihre einstigen Peiniger, überlassen sie in all den verqueren Posen der Unbeweglichkeit ihrem Schicksal. An der Seite tanzt ein kleiner Rotschopf die Befreiung, der Dudelsackmann baumelt am Seil, die Musik verebbt, das Licht erlischt über einer Szene der Stille und eines Scheinfriedens. Der kindlichen Rache an einer kinderfeindlichen Welt?

Es ist der an der Schule der Pariser Oper ausgebildete Boris Charmatz, der seit rund zwei Jahrzehnten immer neu mit seinen thematisch und stilistisch weitgefassten Kreationen aufrüttelt und zu den Innovatoren des zeitgenössischen Tanzes zählt. Auch über das Volksbühnen-Fiasko hinaus stünde er Berlin als Gast gut zu Gesicht.

 

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