„Vortex Temporum“ von Anne Teresa de Keersmaeker

Eine Belgierin kommt, ein Belgier geht

Anne Teresa De Keersmaekers Meisterwerk „Vortex Temporum“ in der Volksbühne

Das erste „Wort“ hat die Musik. Auf der Vorbühne, hinter sich Dunkel, sitzen sie über kreideweißen Kreisformen im Halbkreis, die Instrumentalisten des Ictus Ensemble, zwei Bläser, drei Streicher; den Pianisten hat es links an den Rand verschlagen.

Berlin, 23/04/2018

Das erste „Wort“ hat die Musik. Auf der Vorbühne, hinter sich Dunkel, sitzen sie über kreideweißen Kreisformen im Halbkreis, die fünf Instrumentalisten des belgischen Ictus Ensemble, zwei Bläser, drei Streicher; den Pianisten als sechsten im Bund hat es links an den Rand verschlagen. Erregt tirilierend beginnen in Gérard Griseys Mitte der 1990er entstandener Komposition „Vortex Temporum“, „Zeitwirbel“, die Bläser. Der geballten, schroff in den Raum geworfenen Klangflut suchen die Streicher Sanftheit gegenzuhalten. Als das Piano einsetzt, gehen die anderen Musiker ab, überlassen ihm die „Rede“, und die ist gepfeffert komplex.

Als sich abrupt der Pianist zurückzieht, schlägt die Stunde der sieben Tänzer von Rosas. Auch sie stehen zunächst im Halbkreis, senken den Kopf, lassen Bewegung aufflackern, ausholendes Kreisen ohne Veränderung der Front etwa, alles rund mit noch kleinem Radius. Bisweilen sind zwei Tänzerinnen synchron wie vordem die Bläser; drei Männer ordnen sich den Streichern zu, mit Torsionen, Pirouetten, typischen Sprüngen ihrer Choreografin, das Bein hin zum Körper geführt.

Die ist Anne Teresa De Keersmaeker, Belgiens zeitgenössische Formforscherin für die Welt, die sich mit Vorliebe Musik der Gegenwart verschreibt und nach Gemeinsamkeiten und Reibungen sucht. In dem 1998 verstorbenen Franzosen Gérard Grisey hat sie einen in den musikalischen Strukturen so vertrackten wie anregenden Kompagnon gefunden, an der sich die choreografische Bewegungsfantasie entzünden muss. Engst ist die einstündige Spieldauer über in der wohlbesuchten Berliner Volksbühne der Kontakt zwischen Klang und Tanz, so eng, dass etwa der dem Pianisten beigegebene, behend den Raum ausweitende Solist, über stete Blickkontakte hinaus, selbst in die Tasten greift. Das ruft die anderen Musiker auf den Plan, doch nicht auf den Platz. Denn in dem Maß, wie das Piano während des Spielens durch den Raum geschoben wird, folgen ihm die übrigen Akteure: Tänzer und Musiker zieht es gemeinsam in einen Wirbel, der sich die Bühne bis in ihre Tiefe erobert. Alles vermischt, verschiebt sich, Klang wird Bewegung, Bewegung Klang. Selbst die Strahler des Deckenlichts wandern mit, beleuchten jeweils den genutzten Teil des Bühnenraums: auch das Licht als Teil des umsichtigen tänzerischen Wanderwirbels.

Sein Zentrum bleibt das Piano, auch wenn sich Tanz und Musik eintrüben. Dann hört man nur noch leise instrumentale Faucher, scheint Stillstand eingetreten, bis Helle ihn aufbricht. Die Musiker haben sich weit hinten aufgereiht, die Szene davor gehört gänzlich den Tänzern. Mit Sprüngen, Läufen, Aufhüpfern, Zugbewegungen, Beinwürfen, Schlenkern reagieren sie weiträumig und achtungsvoll auf den Klang, nehmen seine Akzente behutsam auf, kontrahieren als Pulk oder dehnen sich aus. Posen stoppen mehrfach, wenn die Musik pausiert; so treibt es einen Tänzer in die Standwaage, in der er verharrt, bis Griseys Partitur sich fortzufahren bequemt. Musik drückt die Tänzer nieder und richtet sie wieder auf, zieht sie in ihre Aufwallungen, macht sie zum sensibel den Klang erfassenden Organismus. Nach einer Phase der Raserei zu Jaulpassagen beruhigen sich Ton und Tanz. Vereinzelt sind Haucher der Instrumente zu hören, als würde jemand gedämpft Luft ein- und ausstoßen. Im bühnengroßen Kreis lauschen die Tänzer diesem universellen Atem. Tanz und Musik als pulsender Gesamtorganismus, über dem das Licht auffleckt, bis es ebenfalls verschwindet.

Ein unerwartet stiller, auf wunderbare Weise weltüberwindender Schluss einer ungemein tief Musik fühlenden, Musik erfühlenden Choreografie. Zu welch nahtlosem Eins sein sich zeitgenössische Musik und zeitgenössischer Tanz verschwistern können, hat hier Anne Teresa De Keersmaeker erneut gezeigt und ein bereits 2013 uraufgeführtes Meisterwerk geschaffen. Anschließend an diese Spielserie erweitert De Keersmaeker die Fragestellung: Kann die Bühne Ausstellungsraum werden, den Zuschauer zum Besucher machen? „Work/Travail/Arbeid“ heißt die bis zu achtstündige, begehbare Aufführung, die in Brüssel, London, Paris, New York gezeigt wurde und nun in der Volksbühne ihre deutsche Premiere erlebt.

Dort hat eine Ära, die keine geworden ist, jüngst ihr Finale erlebt: die Halbjahres-Intendanz von Chris Dercon. Sein von Anbeginn heftig umstrittenes Konzept, statt eines regelmäßigen Spielbetriebs mit festem Ensemble auf Gastauftritte zu setzen, ist gescheitert: Berlin braucht kein hypertrophiertes Hebbel am Ufer. Eine katastrophale Auslastung brachte das einstige Schlachtschiff provokanten Theaters ins Schwanken. Doch zwei Millionen Rücklagen sichern, wie man hörte, trotz einer Minus-Bilanz das geplante Programm bis Saisonende. Kultursenator Klaus Lederer gab an, in Ruhe einen Nachfolger für den Belgier, dessen Bezüge bis Jahresende weiterlaufen, zu suchen und hat Klaus Dörr zum kommissarischen Leiter berufen. Was das künftig für die Volksbühne bedeutet, ist völlig offen.

 

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