Aufbruch beim Ballett in Warschau
Der neue Chef Krzystof Pastor stellt sich mit „Tristan“ vor
Also derzeit keine Reise im bequemen Warzawa-Express, dafür noch bequemer, am Bildschirm zu Hause, auf dem YouTube-Kanal, direkt zum Teatr Wielki, dem Nationaltheater der polnischen Hauptstadt, und von dort weiter, direkt nach Rom. Dorthin nämlich, in die Hauptstadt Italiens, hat Krzysztof Pastor mit dem Dramaturgen und Autor Willem Bruls seine Choreografie des Balletts „Romeo und Julia“ zur Musik von Sergei Sergejewitsch Prokofjew verlegt. Die Uraufführung dieser höchst bemerkenswerten Kreation fand 2008 beim Scottish Ballet statt, wurde auch vom Joffrey Ballet übernommen und 2014 von Krzysztof Pastor mit dem Polnischen Nationalballett einstudiert, dessen Direktor er seit 2009 ist. Sieben Jahre nach der Warschauer Premiere gibt es nun eine rundum gelungene Neueinstudierung, in neuer Besetzung, als Wiederaufnahme, die zudem als Mitschnitt einer Aufführung, vom 16. April dieses Jahres, weltweit an den Bildschirmen zu erleben ist. Und das ist ein Erlebnis, welches sich in seiner ungebrochenen Aktualität im Nachhinein mit bedrückender Intensität erschließt.
Es mag zunächst seltsam erscheinen, dass die von Krzysztof Pastor und Willem Bruls kreierte Fassung zwar in Italien, nicht aber in Verona und Mantua, wie in der Vorlage der Tragödie, spielt. Sie führt nach Rom, und hier auch nicht in die Zeit am Beginn des 15. Jahrhunderts, wo Shakespeare seine leidenschaftliche und traurige Geschichte der Liebenden von Verona geschehen lässt. Für den Theaterwissenschaftler Georg Hensel ein Gleichnis, „für das notwendige Scheitern des absoluten Gefühls in einer Welt, die durch das Zusammenwirken von gesellschaftlichen Bindungen, von Familienhass, von bösen Folgen guten Willens, von Charakter, Verhängnis und auch Zufall derart verrätselt ist, dass niemand sie durchschauen kann.“
Was zur Zeit der ersten Aufführung des Balletts von Sergei Prokofiev, 1940 in Leningrad – die Uraufführung hatte zwei Jahre zuvor in Brünn stattgefunden – nicht möglich war, nämlich die Unversöhnlichkeit der Familien auch als tödliche Gegensätze politischer, diktatorischer Alleinherrschaftsansprüche stalinistischer, militanter Unerbittlichkeit, zu interpretieren, lässt sich nun in dieser, jetzt in Warschau zu erlebenden Kreation, in bedrückender Art nachempfinden. Hier treffen Romeo und Julia in Rom aufeinander, im Rom zur Zeit des Faschismus, unter der Herrschaft des Duce, Benito Mussolini. Unverkennbar auf der Bühne von Tatyana van Walsum, immer vor der Kulisse der faschistischen Architektur des Palazzo della Civiltà Italiana. Einblendungen originaler Filmaufnahmen erinnern an die politischen und persönlichen Gegensätze der Zeit, auch an die Militanz der gegnerischen Roten Brigaden und weiterer Ereignisse.
Und hier, auf der einen Seite, die junge Gruppe um Romeo, wie ein unbeschwertes Abbild jugendlicher, unangepasster Avantgarde, im Tanz auch kulturell konnotiert, dagegen die uniformierte Militanz faschistoiden Gleichschritts, dem die junge Julia mit ihren Freundinnen sich verweigert, indem sie sich Romeo und den Seinen zuwendet, soweit dies öffentlich möglich ist. Die tänzerischen Gegensätze könnten also nicht größer sein, die Ballettkunst hat hier auch ungeahnte Facetten, die in dieser Choreografie auf der einen Seite im hellsten Licht der Hoffnung aufleuchten, auf der anderen in dunkler Marschmilitanz, was aber in keinem Moment den künstlerischen Anspruch zu Gunsten unangemessener Vorführungsdiktatur erkennbar werden lässt. Abweichend vom Original ist es kein Doge, der den Versuch einer Versöhnung unternimmt. Dies übernimmt schon der Pater, dessen Charakterisierung, hier durch den Tänzer Carlos Martín Pérez als Bruder Lorenzo, vor allem in der Empfindung innerer Zerrissenheit und Unsicherheit, sei es bei der heimlichen Trauung und mehr noch bei der Übergabe des letztendlich tödlichen Schlafmittels an Julia, für starke Momente sorgt.
Die Zeitlosigkeit der Vergeblichkeit einer Liebe im Verborgenen hat ihre starken Szenen sowohl beim nächtlichen Treffen Julias und Romeos, der hier keinen Balkon erklimmt, sondern zu Julia herunter gelangt. Der somit geerdete Balkon wird dann auch zum Brautbett einer Liebesnacht der es aber an überbordender Liebesfreude mangelt. Traurig und niedergeschlagen sitzt dieser Romeo hier auf der Kante. Patryk Walczak ist ein Romeo der Sonderklasse, ganz und gar nicht von überschäumender Unbeschwertheit, immer schon auch im Gestus von Nachdenklichkeit, sogar Zurückhaltung. Da sind dem Tänzer fast melancholische Bewegungsvarianten eigen, um dann in grandioser Sprungkraft Momente von Befreiung zu erleben, sich der wunderbaren Yuka Ebihara als würdig zu erweisen, die letztlich um seinet- und um beider Willen alle Grenzen ihrer Existenz durchbricht.
Maksim Woitiul tanzt die Rolle des Tybalt, der sich in unglaublicher Vehemenz immer stärker, in einer Art zutiefst einsamer, aber letztlich selbstmörderischer Militanz, des sinnlosen Mordes an Romeos Freund Mercutio und des eigenen Todes, wenn Romeo den des Freundes rächt und ihn ersticht, begibt. Für Romeo, Verlust und Schuld, Flucht und wie bei Shakespeare, Tod im Missverständnis, aber eben anders als im Original, von Beginn an, nicht im Schutz eines Clans, er ist der einzige Montague in dieser Sicht von Krzysztof Pastor, der zudem auch die Zeitlosigkeit und somit immer wieder neu zu interpretierende Kraft dieser Geschichte betont. Auf die Zeit Mussolinis in Italien folgt die des Terrorismus der Roten Brigaden und die Liebenden sterben in den 90er Jahren, zur Zeit Berlusconis, Konflikte, Kontroversen, Machtmissbrauch. Menschlichkeit? Fehlanzeige. Und doch die Hoffnung, der Tanz und die Musik geben ihr die Kraft, zwischen den Gegensätzen, in den Momenten tänzerischer Unbeschwertheit, immer aber am Rande der Tragik, des Versagens, der Einsamkeit, des Todes, die Zeichen zu erkennen, die des Widerstandes jugendlicher Avantgarde. Und damit, das kann man spüren in der Kraft des Klanges, hier beim Spiel des Orchesters der Polnischen Nationaloper unter der Leitung von Andriy Yurkevych und den Solistinnen und Solisten, den Tänzerinnen und Tänzern, Dawid Trzensimiech und Rinaldo Venuti als Mercutio und Benvolio; Marco Esposito als Lord und Ana Kipshidze als Lady Capulet; den Freundinnen Julias, Emilia Stachurska und Mai Kageyama, sowie Kristóf Szabó als Paris, zusammen mit den Mitgliedern der Kompanie, wie sie sowohl der einen als auch der anderen Seite dieser am Ende eben tödlichen, gesellschaftlichen Gegensätze in ihren Unvereinbarkeiten, Gestaltung geben, die letztlich wieder von Rom nach Warschau führt, in die unmittelbare Gegenwart.
Als wollte Krzysztof Pastor zur Uraufführung mit seiner Choreografie nachträglich empfindbar machen, was Prokofjew 1940 nicht möglich war, gegen Stalins Tyrannei zu protestieren, wie es in einer Rezension hieß. So mag man ganz sicher heute, in dieser Warschauer Aufführung, stark berührende Assoziationen erkennen im Hinblick auf die gegenwärtige Situation in Polen mit den Formen, sicher auch tänzerischer Art, des Aufbegehrens einer jungen Avantgarde, gegen strenge Verordnungen der Bewegungsmaße des Kunstbetriebes.
Seit der richtungsweisenden Choreografie durch John Cranko, 1962 in Stuttgart, wird auf den Epilog des Balletts von Prokofjew mit der Versöhnung der verfeindeten Familien, wie bei Shakespeare, verzichtet. Mag sein, einer solchen Vision wollte man nicht trauen. Aber inzwischen macht vielleicht Shakespeares nicht immer wahrgenommene Ironie wieder Sinn. Ist es nämlich nicht doch von bitterster und aktueller Ironie, wenn Capulets und Montagues angesichts der Leichen ihrer Kinder, „die armen Opfer unserer Zwistigkeiten“, bedauern und sich dann versöhnen.
Online bis 15. August auf operavison.
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