„Jolanthe und der Nussknacker“ von Lotte de Beer, Omer Meir Wellber und Andrey Kaydanovskiy. Tanz: Ensemble.

„Jolanthe und der Nussknacker“ von Lotte de Beer, Omer Meir Wellber und Andrey Kaydanovskiy. Tanz: Ensemble.

Der Nussknacker filetiert – machbar?

Das neue Wiener Volksopern-Leitungsteam, Chefin und Regisseurin Lotte de Beer und Musikdirektor Omer Meir Wellber, verschränkt zwei Tschaikowsky-Werke zu einem

Der Titel „Jolanthe und der Nussknacker“ verweist auf die gewöhnlich unabhängig voneinander aufgeführten Werke, die ursprünglich nacheinander am selben Abend 1892 uraufgeführt worden sind.

Wien, 14/10/2022

Mit der 41-jährigen Niederländerin Lotte de Beer, die als Gast unter Anderem im Theater an der Wien mit Opernregien vertreten war, ist an der Volksoper ein vorerst frischer Wind eingezogen. Sie versteht es, medial wirkungsvoll aufzutreten und gewinnt mit ihrem offenen, unhierarchischen, man ist versucht, klischeehaft zu sagen „typisch niederländischen“ Blick auf das Musiktheater Sympathien. Auch der gleich alte israelische Dirigent Wellber spricht sich für ein Durchlüften der von ihm allgemein konstatierten Museumsatmosphäre im Theater aus.

In dem seit wenigen Wochen in Rosa getünchtem zweiten Opernhaus in der Stadt, das vor allem Operette, Musical und Ballett spielt, ist der Anspruch junges Publikum miteinzubeziehen groß. De Beers erste eigene Regie galt daher der „Familienproduktion“ „Jolanthe und der Nussknacker.“ Darin geht es um die blinde Königstochter, anfangs angestrengt gesungen von Olesnya Golovneva, die, auch durch ihren herben Vater bedingt, eindringlich Stefan Cerny, in ihrer Nussknacker-Welt lebt. Aber angestachelt durch die Liebe zu Graf Vaudemont, überzeugend Georgy Vasiliev, und mit Hilfe eines maurischen Arztes wird die barfüßige, in ein weißes Hängekleidchen gesteckte Jolanthe sehend. Als Geschichte vom Erwachsenwerden wird die auf Deutsch gesungene, sogenannte Tanzoper beworben.

Die Absicht liest sich allerdings charmanter auf dem Papier als die Realisierung auf der Bühne wenig zügig verständlich wird. Dort hantiert man, nach dem Entrée eines (überflüssigen) weißen Hasens, mit ein paar Sesseln und Pölstern um das Leben der Jolanthe zu zeigen und wohl den Tänzer*innen Platz zu lassen. De Beer setzt eine starre Personenregie in diese Leere, enttäuschend vor allem die karge Charakterisierung der Jolanthe.

Bunt und lebendig wird es, wenn abschnitthaft und blockartig das Tänzer*innen-Ensemble der Volksoper, gehörend zum Staatsballett, Jolanthes Traum-Welt illustriert. Wobei die Ausstattung in Alexej Ratmanskys international viel beachteter Richard Strauss-Produktion „Schlagobers“ für das American Ballet Theatre inspirierend gewesen sein dürfte. Tänzer*innen mit übergroßen Puppen-Köpfen, als rot-weiß gestreifte Zuckerln, als Torten und Kuchen tummeln sich in Jorine van Beeks Kostümgestaltung. Choreographisch gesehen ist das der entscheidende zeitgemäße Anteil an diesem Abend, der von Andrej Kaydanovskiy stammt. Die musikalischen Höhepunkte des Tschaikowskys-Balletts, darunter Blumenwalzer, Schneeflocken-Walzer, Pas de deux, Kampf des Mäusekönigs und Arabischer Tanz inszeniert er auf klassischer Basis und flacher Sohle als Fantasie-Welt mit dramatischen Mini-Dramen, die Jolanthes Wünsche und Ängste spiegeln. Zentral: Wunsch-Prinz Nussknacker, Felipe Vieira, und Jolanthes tanzende Doppelgängerin Mila Schmidt.

Was sich auf der Bühne vor allem im ersten Teil holprig erzählt, der zweite gelingt besser, klingt aus dem Orchestergraben wesentlich geschmeidiger. Guter, auch verschränkter Klang dringt herauf. Es gab viel Applaus aber auch etliche verärgerte Publikumsstimmen mit dem Tenor: „Ballett kaputt, Oper kaputt“. Klüger wäre es wohl gewesen, zumindest Regie und Choreografie in eine Hand zu legen.

Kann man denn nun vor allem den „Nussknacker“ filetieren? Man kann, wenn das Ergebnis berauschend wäre. Man kann sich aber auch fragen, ob man sich nicht der Möglichkeit beraubt hat, den „Nussknacker“ komplett, das Märchenballett für Kinder und Erwachsene schlechthin, ein Verkaufsschlager sowieso, in der nächsten Zeit zu zeigen. Jo Stromgren hat 2001 einen stupenden zeitgenössischen „Nussknacker“ an der Volksoper realisiert, an der Staatsoper war es ein Jahr davor Renato Zanella, der einen anschließend sehr oft gespielten Neuentwurf formulierte, der wiederum in der Ära Manuel Legris der Rudolf Nurejew-Fassung wich. Und, um das Fass voll zu machen, die einst intensiv im Haus am Ring gespielte Nussknacker-Version von Juri Grigorowitsch endgültig in den Hintergrund rücken zu lassen.

 

Wiener Termine: Volksoper, „Jolanthe und der Nussknacker“, 17., 22. und 27. Oktober, 1., 6., 22. und 28. November, 3., 7., 12., 18. Dezember. In ORF II am 14. 10 um 22 Uhr 35.

Entdeckung: Am Salzburger Landestheater kommt im April 2023 ein weiterer Versuch einer Verbindung der beiden Tschaikowsky-Werke heraus: von Thomas Mika und Reginaldo Oliveira.

Empfehlung: Immer noch hinreißend ist Mark Morris‘ comicartige Familiensatire „The Hard Nut“, die 1991 (in der zweiten Vorstellung mit Michail Baryschnikow) in Brüssel herauskam.

 

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