Eher hinterher als vorneweg
„Bundesjugendballett trifft Shakespeare“ im Hamburger Ernst-Deutsch-Theater
Mit „Die Unsichtbaren“ erinnert John Neumeier an Tänzer*innen, die vom Nazi-Regime verfolgt und ermordet wurden
John Neumeier, Intendant des Hamburg Ballett und ebenso des Bundesjugendballetts (BJB), lag das Projekt schon lange am Herzen: den in der Nazizeit verfolgten Tänzer*innen, deren Namen heute kaum noch jemand kennt, ein Denkmal zu setzen. Dazu angeregt hatte ihn nicht zuletzt die Ausstellung „Verstummte Stimmen“ über die Vertreibung jüdischer Künstler*innen, initiiert 2006 von dem Historiker Hannes Heer, dem Musikkritiker Jürgen Kesting und dem Designer Peter Schmidt, die u.a. auch in der Hamburger Staatsoper gezeigt wurde.
Jetzt ist der lange gehegte Wunsch mit dem BJB Realität geworden, und auch hier war Peter Schmidt beteiligt: Er hat das angenehm schlichte und auf das Wesentliche reduzierte Bühnenbild gestaltet. Es wird vor allem beherrscht von dem großen Wandgemälde „Orpheus mit den Tieren“ von Anita Rée, das im Hamburger Ballettzentrum die Stirnseite des Fokine-Studios schmückt. Bei der Renovierung des Gebäudes 1989 wurde es durch Zufall entdeckt, freigelegt und restauriert. Die Malerin Anita Rée (1885 – 1933) entstammte einer jüdischen Hamburger Kaufmannsfamilie, gehörte selbst zu den verfemten Künstler*innen und nahm sich aufgrund der Verfolgung durch die Nazis das Leben.
„Die Unsichtbaren“, das ist, so sagt John Neumeier selbst im Programmheft, „eine Auseinandersetzung mit der vitalen Tanzentwicklung der 1920er und 1930er Jahre, die durch die Machtübernahme des Nationalsozialismus weitgehend zum Stillstand kam. Vor allem aber ist es ein Andenken an die Menschen dieser Tanzszene.“ Und doch ist das Stück nicht nur Vergangenheitsbewältigung, Erinnern und Gedenken, sondern gleichermaßen auch Mahnung in der Gegenwart. Denn durch den Angriffskrieg Russlands in der Ukraine hat das, was damals geschah, noch einmal eine ganz neue, aktuelle Bedeutung erfahren. Heute müssen Menschen mitten in Europa wieder aus ihrer Heimat fliehen, sie werden vertrieben, verfemt und unterdrückt, sie tauchen unter, gehen ins Exil – sie werden unsichtbar. Vielleicht gelingt dieser Collage ausgewählter Künstler*innen-Biografien der Nazizeit deshalb etwas, was nicht mehr so oft passiert auf der Bühne heutzutage: sie berührt, sie macht nachdenklich, sie mahnt eindringlich vor der Wiederholung dessen, was sich eigentlich nie mehr wiederholen sollte.
Der Abend beginnt mit dem, was Tänzer*innen damals wie heute jeden Tag tun: zum Training gehen. Ida-Sofia Stempelmann, von 2018 bis 2020 selbst Mitglied des BJB und seit der Spielzeit 2020/21 Gruppentänzerin beim Hamburg Ballett, betritt als erste die Bühne (sie verstärkt ebenso wie Guiseppe Conte von der Theaterklasse der Ballettschule des Hamburg Ballett an diesem Abend die acht Tänzer*innen des BJB), begleitet von der berückend schönen Filmmusik (reduziert auf Geige und Klavier) aus „Ladies in Lavender“ von Nigel Hess. Nach und nach füllt sich die Szenerie weiter, und man versteht, dass dieses Training nicht unter normalen Bedingungen stattfindet: Ein Tänzer tritt an die Rampe und zitiert aus dem Brief des Tänzers Jean Weidt (1904 – 1988), den dieser schrieb, als er von einem Gastspiel zurückkam und erfuhr, dass die Gestapo auf ihn wartete: „Ich blieb auf dem Schiff und fuhr über London nach Paris. Ich war ein Emigrant geworden.“
Dramaturgisch zieht sich in der Folge eine Rede von Mary Wigman (1886 – 1973) wie ein roter Faden durch den ganzen Abend, immer wieder unterbrochen durch einzelne Tanz- und Sprechszenen, die anderen Künstler*innen gewidmet sind. Isabella Vertes-Schütter, Schauspielerin und Intendantin des Ernst-Deutsch-Theaters, das dem BJB schon seit vielen Jahren eine Heimat gibt, spricht diesen Part selbst. Es ist ein Vortrag, den Wigman 1941 im Theatermuseum Hamburg gehalten hat. Darin nimmt sie ausführlich Stellung dazu, was der Tanz ihr bedeutet.
Mary Wigman war eine wichtige Wegbereiterin des modernen Ausdruckstanzes, zusammen mit Rudolf von Laban, den sie schon 1913 auf dem Monte Veritá in Ascona aufsuchte. 1920 eröffnete sie ihre eigene Schule in Dresden. Zu ihren Schüler*innen zählten u.a. Harald Kreutzberg, Gret Palucca, Hanya Holm und Dore Hoyer – alles große Namen in der Tanzszene des 20. Jahrhunderts. 1933 bekam Wigman eine Genehmigung, „ausnahmsweise 5 Prozent Schülerinnen nicht-arischer Abstammung“ unterrichten zu dürfen. Sie erkaufte sich das u.a. mit dem Beitritt zum „Kampfbund für deutsche Kultur“ und übernahm von 1933 bis 1934 sogar die Ortsgruppenleitung der „Fachschaft Gymnastik und Tanz“ im Nationalsozialistischen Lehrerbund. 1942 musste sie ihre Schule verkaufen und ging als Gastlehrerin an die Hochschule für Musik nach Leipzig, wo sie nach dem Krieg erneut eine Schule einrichtete. 1949 wechselte sie nach Westberlin. Ihr Antichambrieren mit den Nazis kostete sie in der Nachkriegszeit viel Ansehen, und 1996 wurde Wigman ebenso wie Laban, Palucca und Kreutzberg verdächtigt, an der „Gleichschaltung und Arisierung des Tanzes in Deutschland“ teilgehabt und „auf ihre Weise Goebbels‘ Kunstpolitik gestützt“ zu haben. Bis heute sind sich die Tanzhistoriker*innen in dieser Einschätzung allerdings nicht einig.
Und gerade in diesem Punkt fühlt man sich an die Gegenwart erinnert – an die Diskussionen um russische Künstler*innen und ihr Verhältnis zu Putin und dem Krieg in der Ukraine. „Die sogenannte Schuldfrage ist sehr komplex“, sagt Neumeier mit Bezug auf die Nazizeit. „Selbst den großen Figuren des Tanzes wurde vorgeworfen, dass sie kollaboriert hätten, indem sie ihren Weg in dieser furchtbaren Diktatur weiterverfolgten. (…) Die jetzige Situation in Russland zeigt uns, wie schwer es ist, zu einer fundierten Einschätzung zu kommen – selbst als Zeitgenossen im heutigen Medienzeitalter. (…) Ob alle Tänzerinnen und Tänzer Russlands das Land verlassen sollten? Und wenn sie es nicht tun, kollaborieren sie dann automatisch mit Vladimir Putin? (…) Es ist sehr schwer, das Handeln von Menschen unter extremen Bedingungen aus der Distanz zu beurteilen: im aktuellen Kriegsgeschehen ebenso wie im Rückblick auf die NS-Zeit. Ich möchte nichts schönreden. Auf der anderen Seite möchte ich auch niemanden verurteilen, von oben herab und aus sicherer Entfernung.“
Neumeier hat für die Konzeption des Abends auch den Tanz- und Theaterwissenschaftler Ralf Stabel zu Rate gezogen. Er schreibt im Programmheft: „Um ins Dunkel des Unsichtbaren zu gelangen, ist es notwendig, sich erst durch zum Teil gleißendes Licht zu begeben, das die Stars von damals ausstrahlen. Geschichte ist nie einseitig, selten genug eindeutig. Diese Inszenierung ist ein anderer, künstlerischer Blick, ein weiterer ‚Gedenk-Stein‘, der die noch ausstehende umfassende Erforschung und Veröffentlichung dieses Kapitels der vom nationalsozialistischen Deutschland verursachten internationalen Tanzgeschichte anregen und bereichern kann. Eine Ausstellung (im Foyer des Ernst-Deutsch-Theaters, d. Red.) wird an einige der von der nationalsozialistischen Politik Betroffenen erinnern. Bertolt Brecht schrieb, dass sie nicht Emigranten, sondern Vertriebene und Verbannte seien. Und man muss hier leider ergänzen: auch Verdrängte und Vergessene. Aus diesem Verdrängen und Vergessen möchten wir die Betroffenen befreien.“
Und das gelingt mit diesem Werk tatsächlich auf besonders berührende Weise, gerade in der Kombination des Tanzes mit den gesprochenen Texten, die mal Briefe sind, mal Reden, mal eine fiktive Gerichtsverhandlung. Neben Isabella Vertes-Schütter glänzen hier Louisa Stroux und Maximilian von Mühlen. Mit einem Mosaik aus insgesamt 16 kurzen Szenenfolgen erweckt John Neumeier die Unsichtbaren zu neuem Leben. Sie werden deutlich in ihren jeweiligen Besonderheiten, aber auch in ihrer Einsamkeit, Verzweiflung und Not. Dass Raymond Hilbert, selbst Student der Palucca-Schule für Tanz in Dresden und heute als Ballettmeister des BJB tätig, an vielen Szenen mitgewirkt hat, ist ein besonderes Glück. Seine Choreografie zu „Palucca“ für die leichtfüßige Ida-Sofia Stempelmann ist einer der Höhepunkte des Abends, ebenso das von ihm choreografierte Solo als Harald Kreutzberg.
Einen direkten Bezug zu heute hat Neumeier im zweiten Teil des Abends mit dem 1964 komponierten sarkastischen Antikriegslied „With God on our Side“ von Bob Dylan eingebaut, gefolgt von einer der großen Hymnen der Rockmusik: „Bohemian Rhapsody“ von Freddy Mercury, zu der das BJB als Kontrast zur eher grau-braunen, düsteren Szenerie jetzt in bunten Kleidern auftanzt – Sinnbild wohl der nicht versiegenden Lebensfreude.
Choreografisch maßt sich Neumeier nicht an, die damaligen Tänzer*innen und Choreograf*innen zu zitieren, auch weil er „keine Kontroverse um historische Stile provozieren“ wollte, die sich aus dem Anspruch einer Rekonstruktion ergeben könnten. Vielmehr ließ er sich zu eigenen Impressionen inspirieren, wobei er viele Schritte aus eigenen Werken entleiht. Zum Beispiel aus dem 1970 geschaffenen „Rondo“, vor allem aber aus seiner Version des „Sacre du Printemps“. Das passt mal mehr, mal weniger gut – zumal die Musik in der Klavierversion gemessen am Volumen der Orchesterfassung erst einmal fremd, dann aber doch auch reizvoll erscheint. Alle Tänzer*innen stürzen sich mit großem Engagement in ihre Rollen – und einmal mehr zeigt das BJB hier seinen hohen tänzerischen Standard und seine stilistische Flexibilität. Hervorzuheben ist hier Lennard Giesenberg, der nicht nur makellos und gut verständlich sprechen, sondern ebenso präzise und ausdrucksstark zu tanzen vermag. Er wird mit der kommenden Spielzeit ebenso wie Justine Cramer als Gruppentänzer*in ins Hamburg Ballett übernommen.
Besonders gelungen ist der Schluss, wenn sich alle zehn Tänzer*innen in die Öffnungen der Saaltüren stellen und im Wechsel und in alphabetischer Reihenfolge die Namen der „Unsichtbaren“ verlesen, von A wie Ruth Abramowitsch bis Z wie Hans Züllig (eine Zusammenstellung aller Namen mit – soweit möglich – Angaben zur Biographie findet sich auf einer Memorial Wall im Internet). Und ebenso bewegend ist es, wenn sich anschließend der Vorhang vor einer leeren Bühne öffnet, bevor alle Beteiligten den verdienten Applaus entgegennehmen.
Bleibt zu hoffen, dass dieses Stück im Rahmen des Geschichts- oder Kunstunterrichts auch Schüler*innen der Hamburger Oberstufen gezeigt werden kann – gerade über den Tanz lässt sich noch einmal ganz anders ins Gespräch kommen über die in diesem Abend aufgeworfenen wichtigen Fragen.
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