Kunst der Verzauberung
Die Jubiläumsausgabe von Think Big!, dem Festival für junges Publikum in München, lädt zum Träumen ein und hält den Spiegel vor
Drei nackte Körper im Licht. Sie liegen eng beieinander und denkbar weit von den Zuschauenden entfernt. Und da sie sich vorerst nicht rühren, bleibt die Aufmerksamkeit an einer Bewegung zu ihrer Linken hängen: In unregelmäßigen Abständen platscht da ein um der andere Batzen Schleim geräuschvoll in eine Pfütze und stimmt auf das Kommende ein. Denn Léonard Engel verspricht mit „Orchids“ eine Auseinandersetzung mit Männlichkeit, wobei „Orchids“ bewusst zweideutig sowohl die Schönheit der Orchideengewächse als auch die fragilsten Teile des männlichen Genitals meint: Die Hoden. Und also tropfen mit jedem Schleim-Aufplatscher Assoziationen ins Gehirn - mit allerlei glitschigen Körpersäften rund um Sex und Geburt, mit Gleitmitteln, vielleicht auch Pflegeprodukten, man weiß ja bis hierhin noch nicht viel.
Und schon hat man beinahe die erste Bewegung verpasst. Sehr langsam löst sich aus dem Menschengebilde ein Arm; die Bestandteile des Gebildes rollen auseinander, ohne sich schon zu individualisieren. Jeder klebt noch zu sehr an der Nähe zu den anderen. Irgendwann probiert der erste der drei Männer das Sitzen, wankend, zittrig und mit schnell nachlassendem Mut. Dann das Stehen, den aufrechten Gang. Das dauert.
Die drei agieren wie frisch geschlüpft. Etwas Embryonales hat auch ihr erstes leises Tönen, ein Stöhnen fast, allenfalls eine Vorstufe von Gesang. Und sehen die zerknüllten Stoffe, die über schon erstarrten Schleimpfützen von der Decke hängen, nicht aus wie Kokons?
Dass man so viel zum Assoziieren kommt, ist ein Hinweis auf die mangelnde Action auf der Bühne. Sie ist weniger ein Manko als eine Frage der Erwartung. Denn nach seinem betörend schönen drehschwindelig machenden Erfolgsstück „Parotia“ ist Leonard Engel wieder dahin zurückgekehrt, wo er 2019 mit seinem Solo „How to get rid of a body“ schon einmal war: Ins Reich der Metamorphosen und der Langsamkeit. Sich darauf rezeptionstechnisch einzuschwingen, gelingt nicht von jetzt auf gleich.
Erstaunlich genug, dass ein klassischer Balletttänzer, der an der Pariser Oper ausgebildet wurde und Solist im Bayerischen Staatsballett war, sich als freier Choreograf derart zielstrebig auf die blinden Flecken seiner bisherigen Laufbahn stürzt. Ihn interessieren „die unkontrollierbaren Aspekte des Körpers“, das „was er tun will“, schreibt Engel im Programmheft. Also nicht das, wozu ihn gesellschafliche und professionelle Konditionierung haben werden lassen. Da ist er also, der Körper from scratch, in einer Art Labor, aus dem alle äußeren Einflüsse ausgesperrt sind. Allein dass sich Engels Performer diesem Vakuum und unseren Blicken aussetzen, definiert den Begriff Mut neu: Der Tänzer Mikael Marklund, der Performer, Choreograf und Komponist Tian Rotteveel und der Countertenor Rupert Enticknap haben rein optisch sehr unterschiedliche Männerkörper. Unterschiedlich gebaut, unterschiedlich trainiert, aber in der Situation der Performance gleich nackt, schutzlos und verletzlich, unbeschrieben und gleichsam unbewohnt.
Wie sie allmählich in diese Körper hineinwachsen und mit ihnen ins Offene hinein tanzen ist anrührend. Von Männlichkeitsklischees halten sie maximalen Abstand. Kein Machismo, nichts Martialisches, kein Mehr-Schein-als-Sein. Nur einer gleitet einmal durch eine Pose hindurch, die an Skulpturen wie Michelangelos David oder den Diskuswerfer des Myron erinnert. Aber sie passt ihm nicht. In den zarten Stoffen, die sie schließlich aus der Luft pflücken und sich überstreifen, fühlen sie sich dagegen wohl und bollern zuletzt fröhlich aneinander wie Billardkugeln mit zu wenig Drive.
Dass alle drei bis dahin sehr ähnliche Entwicklungsstadien durchlaufen haben - inklusive plötzlicher Sspannungsverluste und Glitches in den Bewegungsabläufen - ist durch die ausschließliche Orientierung aneinander logisch, hat aber auch etwas Deterministisches. Der Haupt-Unterschied zwischen ihnen bleibt ihre Körperlichkeit, die sie quasi als Readymade mit auf die Bühne des Schwere Reiter gebracht haben. Hier hätte man sich mehr Varianz gewünscht. Mehr Hoffnung auf Verhaltens-Diversität des offenen, weichen Mannes.
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