Das Bayerische Staatsballett eröffnet seine Saison mit „Onegin“ von Cranko
Allüre und Melancholie: Marlon Dinos phänomenales "Onegin"-Debüt
Was ist das doch für ein Fiesling, dieser Onegin! Seine Blicke und Gesten lassen Glück und alle anderen Emotionen wie zum Spaß zerschellen. Selbstherrlich-arrogant tritt er auf – und wirkt zugleich verantwortungslos und zerstörerisch. So etwas hat choreografisch wie tänzerisch enormes Potenzial, was John Cranko – der moderne Übervater des abendfüllenden Balletts – bereits Mitte der 1960er Jahre in Stuttgart erkannt hatte.
Aktuell wühlt Onegin im Nationaltheater abermals die heile Welt der Witwe Larina (Séverine Ferrolier) auf und bricht deren Töchtern das Herz. Seinen Freund Lenski, der allzu cholerisch in seiner Eifersucht reagiert, tötet Onegin schließlich im Duell. Seit 1972 fest im Münchner Repertoire verankert darf Crankos „Onegin“ als Signaturstück des heutigen Bayerischen Staatsballetts gelten – seit jeher mit technisch-darstellerischen Traumpartien für jede Tänzergeneration. Daher muss es nicht wundern, wenn sich veritable „Onegin“-Aficionados im Publikum rühmen, dieses Stück schon mehr als 110 Mal gesehen zu haben.
Gewiss bleibt es unaufhörlich spannend, neue Interpreten des tragischen Vierergespanns der Hauptrollen – Tatjana, Olga, Lenski und Onegin – zu erleben. Das Besondere bei Crankos visuell überreichem „Onegin“ ist, dass die Faszinationskraft in jeder Vorstellung stets vom unmittelbaren Verständnis der ausgetanzten Konfliktdynamik und der Tiefe der jeweiligen Rollenpsychogramme herrührt – sogar bis hin zu den komischen Nebenrollen angejahrter Ballgäste. Faszinierend wird es deshalb immer dann, wenn Tänzerinnen und Tänzer die enorme schauspielerische Herausforderung beim Schopf packen und dem choreografisch genau vorgegebenen Schritt- und Handlungsverlauf durch persönliche Untertöne im Gefühlsregister ihren ganz persönlichen Anstrich verleihen.
Wie sich der pointierte Umgang miteinander auf die beiden gegensätzlichen Paare – Onegin/Tatjana und Olga/Lenski – und damit auf den dramatischen Gesamtbogen des dramatischen Abendfüllers auswirken, zeigen die neuen Münchner Besetzungen bestens. Schon vor fünf Jahren hatten Osiel Gouneo (Onegin) und Laurretta Summerscales (Tatjana) auf Anhieb unglaublich ergreifende Interpretationen hingelegt. Nun reiben sich die beiden erfahrenen Ersten Solisten noch tiefgründiger aneinander und treiben spielerisch ihre Empfindungen auf die Spitze. So sehen neue Maßstäbe im Tanz aus! Summerscales erscheint anfangs fast völlig zurückgenommen. Im Zug ihres eigenen Verletztwerdens ahnt sie jedoch früh das kommende Unheil. Im Finale agiert sie in ihrer rationalen Härte so extrem entschlossen, dass der Partner, wenn sie sich Onegin doch einige Male hintereinander in die Arme fallen lassen muss, kaum etwas von Liebe verspürt haben dürfte.
Gouneo scheint als technisch brillanter, diabolischer Onegin regelrecht unverschämte Freunde daran zu haben, Gefühle in Schutt und Asche zu legen. Für die romantische Tatjana hält er ein Wechselbad aus kurz mal charmantem Lächeln, vor allem aber aus überdrüssiger Ignoranz bereit. Total fehl am Platz stört er den Ballverlauf auch im dritten Akt. Doch nun torkelt er völlig gedankenverloren umher, bevor er es wagt, die einst von ihm übel verschmähte Tatjana im finalen Duett – natürlich vergeblich – für sich zurückgewinnen zu wollen.
Ihre ganz eigene Dynamik verlieh dieser Wiederaufnahme-Premiere am 13. Januar der Umstand, dass dem älteren Hauptpaar mit Margarita Fernandes (Debüt als Olga) und António Casalinho (Debüt als Lenski) ein technisch fulminantes, blutjunges, verliebt-glückliches Paar gegenüberstand. Beide zu 100 Prozent musikalisch steigern sich – das Ensemble mit sich reißend – großartig in ihre jeweiligen Charaktere hinein: Fernandes mehr unbedacht bezaubernd, Casalinho explosiv eifersüchtig. Das hat großes Format und gräbt sich in seinen Details – wie Lenskis laute Ohrfeige für Onegin vor dem Duell – stärker in die Erinnerung ein als Julian MacKays Lenski-Debüt an der Seite von Elvina Ibraimova als Olga am Folgetag.
Insgesamt jedoch – ein nicht unwichtiger Faktor – harmoniert diese zweite, etwas leisere und weniger expressive Auslegung sehr gut mit dem, wie Jakob Feyferlik und Madison Young an seiner Seiteihre Rollendebüts anlegten. Feyferlik, der erst seit Saisonbeginn Mitglied im Ensemble ist, verleiht seinem klassisch-eleganten Onegin smartere Züge, zeigt sich interessiert an Olga und geht im Spiegel-Pas de deux ganz auf die Träumereien seiner Tatjana ein. Zum Schluss lässt Young den nun seinerseits reumütig liebesversessenen Onegin kurz an der Liebe teilhaben, die sie sich in ihrem Inneren für ihn bewahrt hat – perfekt und quasi lehrbuchhaft austariert.
Bei beiden Aufführungen trat Crankos ungeheures Talent zutage, die Kunst des Pas de deux als Transportmittel für subtile innere Gefühlsverschiebungen zu nutzen. Am ersten Abend geriet dies – angesichts eines Ausdrucksfurors sondergleichen – schon mal an seine eigentlich festgeschriebenen Grenzen. Der zweite Abend fiel dagegen insgesamt moderater aus. Beide Male zu Recht Jubel, Rufen und Trampeln für die Solisten und das Ensemble.
Bei der Einstudierung akribischgecoached wurden alle Besetzungen von Stuttgarts vormaligem Ballettintendanten Reid Anderson. Auch das Corps de ballet strahlte wie frisch aus dem Ei gepellt. Die Riege der Freundinnen trat wunderbar unisono auf und ihre acht Partner katapultieren sich mit Sprüngen – einer sensationeller als der andere – mitten hinein in das sorglos fröhliche Gartenidyll. Schade, dass die Besetzungszettel die Namen dieser Tänzerinnen und Tänzer neuerdingseinfach verschweigen.
Nach kurzer Verschnaufpause stand am 18. Januar noch eine weitere „Onegin“-Vorstellung auf dem Programm: dieses Mal sogar mit Neubesetzungen in allen fünfHauptrollen. Gesegnetes Bayerisches Staatsballett! Beginnen wir mit dem eindrücklichen Fürsten Gremin des Tänzers Robin Strona. Dessen Kollege Matteo Dilaghi hatte am Wiederaufnahme-Abend– im Umgangmit Onegin schon bei der ersten Begegnung erfahren-routiniert –als Tatjanas Gatte im 3. Akt voll überzeugt. Tags darauf schaffte es Alexey Dobikov – zum ersten Mal in der Partie besetzt –, den herausfordernden Pas de deux gegenseitigen Respekts und liebevoller Zuneigung unglaublich leicht und in seiner tänzerischen Akkuratesse souverän selbstverständlich wirken zu lassen. Strona aber – in der Vergangenheit wiederholt die erste Wahl für Travestienummern à la Witwe Simone in Ashtons „La Fille mal gardée“ oder überdrehte Herzogin in Wheeldons „Alice im Wunderland“ – verstand es,Dobikov in dieser Hinsicht noch zu übertreffen. Zudem hauchte er dem in Uniform und vornehm zurückgenommenen stets beste Figur machenden Familienmenschendurch zwei impulsive Handküsse beim Abschiednehmen von Tatjana eine ungewohnt leidenschaftliche Herzlichkeit ein.
Umso schlüssiger war, wie sich die charaktersichere und -starke Tatjana von Maria Baranova anschließend dem schriftlich angekündigten Besuch Onegins stellte – hier erstmals getanzt von Jinhao Zhang. Letzterer ließ anfangs zwar eine gewisse Unsicherheit durchschimmern, welche innerenGemütswendungen seiner Figur wann am besten zu Gesicht stehen. Als er Lenski (maskulin kraftvoll bei seinem Debüt: Yonah Acosta) dessen Freundin Olga (sehr temperamentvoll; ein fast eigensinniges Rollendebüt: Bianca Teixeira) beim Ball provozierend mutwillig als Tanzpartnerin ausspannt, möchte man ihm geradezu zurufen: „Mehr Tempo! Mehr fatalen Drive!“ Doch spätestens als Lenskis Fehdehandschuh Onegins Wange trifft, macht Zhang mit dem sporadischen Aufflackern eines Prince Charming Schluss – jener Facette von Onegin, mit welcher dieser im Spiegel-Pas-de-deux seine Partnerin in der Luft und über Kopf herumwirbelt als sei ihr Körper ein federleichtes Nichts. Jede Pirouette, jeder Sprung nehmen fortan gestochen scharfe Konturen an. Zum Schluss lassen auch Maria Baranova und Jinhao Zhang Crankos „Onegin“ in einem sehr ergreifenden, höchst emotionalen Showdown wieder aufbrechender Emotionen gipfeln.
Sie verschmelzen letztlich zu einem Paar, das in intensiven Momenten Fehler der Vergangenheit aufzuarbeiten sucht. Zhang steigert sich famos in das Gefühl eines Verlierers hinein, der geliebt werden will. Baranovas Tatjana hadert kurz mit ihrem Wissen, dass beider Lebenswege völlig anders hätten verlaufen können. Sie ringt mit dem Schmerz einst unerfüllter Liebe, erkämpft sich dannjedoch – in ihrem Fall beide Arme mit angespannten Fäusten gen Boden gerichtet – ihre Fassung zurück. Toll ist, dass alle drei Versionen mit ihren unterschiedlich angelegten inhaltlichen Steigerungen nichtsdestotrotz unmittelbar überzeugen.
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