„Exposure“ von Julio César Iglesias Ungo und Hans van den Broeck, Tanz: Urban Arts Ensemble Ruhr und Danza Contemporánea de Cuba

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Urban Arts Ensemble Ruhr und Danza Contemporánea de Cuba mit „Exposure“ auf PACT Zollverein Essen

Smartphone-Zombies auf grünem Rasen, die nichts mehr als die hohle Geste kennen. Zum Glück kommt Descartes zu ihrer und unserer Rettung. Diese conditio humana hat ziemliche Wucht.

Essen, 07/12/2024

Der eigentliche Star des Abends bleibt unsichtbar. Er sorgt am Pult dafür, dass die Zuschauerränge fast ohne Unterbrechung eine ganze Stunde lang durch die vibrierenden Sounds mitschwingen. Und er sorgt dafür, dass die Tänzer*innen immer wieder unter einer merkwürdigen, leicht diffusen Lichtpyramide wie eingehaust wirken. Es ist der australische Soundfrickler Ben Frost, der den Tänzer*innen eine akustische Atmosphäre unter die Füße schiebt, die sie aufgekratzt und unruhig beständig nach vorn drängen lässt. Und mittels zweier vertikal auf den Boden gerichteter Beamer schafft er Lichteffekte, die in Teilen natürlich auch als Projektion sichtbar werden. Und beides, Sounds und Licht, regelt Frost live.

Das Urban Arts Ensemble Ruhr hat sich hier mit der Compagnie Danza Contemporánea de Cuba zusammengetan. Auf grünem Kunstrasen, um den herum das Publikum an allen vier Seiten platziert ist, buchstabieren sie eine Art Zustandsbeschreibung durch. Die Brücke zwischen beiden Compagnien ist der Tänzer und Choreograf Julio César Iglesias Ungo. Er hat in der Vergangenheit sowohl für die Kubaner getanzt als auch für Pottporus, quasi dem Vorgänger des Urban Arts Ensemble Ruhr. Ultima Vez hat er auch noch auf der Vita stehen. Gemeinsam mit Hans van den Broeck hat er hier die Choreografie übernommen. Der wiederum, ist Mitbegründer der legendären Compagnie von Alain Platel. Choreografisch aber scheinen die beiden nicht sonderlich viel zu tun gehabt zu haben, so unspezifisch wirken über einige Strecken die Bewegungsqualitäten der Beteiligten. Das aber hat seine Gründe und gute noch dazu. Dramaturgisch wirkt ihre Arbeit desto intensiver.

Der digitale Mensch

Was hier auf dem Programm steht, ist eine Verquickung zweier aktueller Themen, denen man auch im Tanz immer wieder begegnet. Zum einen ist da die Befragung des Individuums und dessen Wechselbeziehung zu einer Gemeinschaft. Fast mahnend darübergelegt ist das Thema der rasanten Technologisierung und Digitalisierung der gesamten menschlichen Existenz. Haben wir unser Hirn schon an die unzähligen Apps abgegeben? Brauchen wir unser Hirn überhaupt noch? In der Dunkelheit blinken die Stirnlampen der Tänzer*innen. Da kommt sie lautlos angeschlichen, die KI. Sie ist schon ganz nah. Ein einzelner Tänzer in weißem Rollkragenpullover und schwarzer Hose agiert als Verkörperung des digitalen Parallelraumes. Mit unnatürlich wirkenden Bewegungen ist er ein Avatar, animiert und seelenlos. Popping, Locking und Waving wirken hier wie Verpixelungen. Mit digital seelenloser Stimme hält er fest: „Devices will think for you about tomorrow“. Das Denken, ist es uns nicht schon abgenommen worden? Wo bleibt er, der Mensch?

In einer geschlossenen Gemeinschaft beginnen die Tänzer*innen, verbunden, synchron, mit einer inneren Stärke wie eine Kampfeinheit. Entschlossen, düster. Lösen sie sich schließlich voneinander, vereinzeln sich, wird das Erwartbare sichtbar: Chaos bricht aus den einzelnen Figuren, ziel- und orientierungslos. Da bricht wie auf Kommando beängstigende Aggression aus ihnen, ein verbindender Zustand, der sie wieder zueinanderfinden lässt. Nur zeigt diese Gemeinschaft keine Inhalte mehr. Effektvolles Hin- und Hergehen bleibt ganz deutlich bloße Fassade. Als hätte der Mensch keinen Zweck mehr. Diese Aussage über fehlende Inhalte ist eine bittere Note. Bad vibes.

Nur für eine kurze Sequenz, wenn sich alle einzeln ein Solo gönnen, bleibt einem fast die Spucke weg angesichts der innovativen Bewegungstechniken, die Einflüsse aus dem Hip-Hop deutlich machen, aber auch Elemente aus der Capoeira mitbringen. Individuelle Existenz ist also gar nicht tot. Noch nicht? Die Gruppe reißt sich in einem Kraftakt zusammen. Fast rituell recken sie immer wieder synchron die Arme nach oben, suchen in der Beschwörung nach Möglichkeiten des Empowerments.

Wer nicht denkt, verschwindet

In einer dramaturgischen Zäsur stellt sich schließlich ein Tänzer namentlich vor: Jonas Krämer, genannt Jon Sky. Wer ist er? Wer kann er sein? Was von ihm nimmt man wahr? Er bringt Descartes‘ Credo „Ich denke, also bin ich“ und fragt, ob er wohl verschwindet, wenn er aufhört zu denken. Verschwinden wir, wenn wir nur noch auf unsere Handys starren und uns von ihnen den Alltag strukturieren lassen?

Die Evolution dreht sich schließlich zurück, und alle mutieren zu heulenden Wölfen. Plötzlich liest sich das Konstrukt der Gemeinschaft anders. Die Kampfbereitschaft, die schon am Anfang steht, sie ist die Bereitschaft, für das Menschliche zu kämpfen. Mit einer Note der Verzweiflung.

Wer klagt, dem zeitgenössischen Tanz gingen langsam die innovativen Impulse aus und es gäbe nur noch Konzeptkunst, sollte mal einen Blick in Richtung Urban Arts ganz generell werfen. Diese Arbeit hier bringt eine immense physische Power mit, kommt ziemlich „in your face“ um die Ecke, hat aber gleichzeitig nichts Predigendes oder gar Vorwurfsvolles an sich. Durch die Bestuhlung finden sich die Tänzer*innen wortwörtlich inmitten des Publikums. Sie sind unter uns. Mal schauen, wer das so ist. Lohnt sich auf jeden Fall. 

 

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