„Extra Life“ von Gisèle Vienne 

Das Unaussprechliche sichtbar machen

„Extra Life“ von Gisèle Vienne als österreichische Erstaufführung im Tanzquartier Wien

Die französische Choreografin Gisèle Vienne – übrigens kein Künstlername – behandelt in „Extra Life“ das Tabuthema Kindesmissbrauch. Entstanden ist ein sensibler Abend, der unter die Haut geht.

Wien, 04/03/2024

In seiner Intensität macht einen „Extra Life“ sprachlos – auch ob des behandelnden Themas. Man ist versucht, vor diesen Text eine Trigger- und Spoilerwarnung zu setzen. Dabei beginnt der Abend harmlos. Langsam wird das Licht auf der Bühne heller und man erkennt ein Auto am linken Bühnenrand. In diesem sitzen Klara und Felix. Es ist kurz nach halb sechs in der Früh, die Geschwister sind am Heimweg von einer Party. Was belanglos wirkt, bekommt im Gesprächsverlauf Tiefgang. Denn die Begegnung Klaras mit einer jungen Frau auf eben jener Party ermöglicht ihr endlich, das Unaussprechliche gegenüber ihrem Bruder anzusprechen: Sie wurde als Kind vom Großvater missbraucht. Im Lauf des Abends wird sich herausstellen, dass der Großvater auch nicht vor ihren Freundinnen oder Felix zurückgeschreckt ist.

Ein Alter Ego?

Während des Gesprächs taucht am rechten Bühnenrand eine Figur auf. In Zeitlupentempo bewegt sie sich auf das Auto zu. Sie hat eine Ähnlichkeit mit Klara, aber wirkt doch anders. Es könnte sein, dass Klara sich in ihrer Trauma-Erfahrung eine zweite Persönlichkeit erschaffen hat, um mit dem Erlebten besser umgehen zu können. Am Ende wird Klara 2 zurückbleiben und Klara 1 im Nichts verschwinden. Man hofft, dass die zurückbleibende Klara mit dem Erlebten besser umgehen kann oder jetzt einen Weg gefunden hat, das Geschehene hinter sich zu lassen und befreit in eine bessere Zukunft zu gehen. Diese Hoffnung wird auch durch den Titel „Extra Life“ genährt: Nachdem die Geschwister endlich den Mut hatten, sich gegenüber dem anderen zu öffnen, können sie vielleicht in ein „neues extra“ Leben starten. Vielleicht so, wie man ein Bonusleben bei Computerspielen bekommen kann.

Die Worte gehen aus, der Tanz beginnt.

Denn Felix wiederum hat sich in den letzten Jahren in eine Traumwelt im Computerspiel Minecraft geflüchtet. Auch ihm fehlen die Worte, um zu beschreiben, was ihm widerfahren ist beziehungsweise wie es ihm jetzt geht. Wenn die Worte ausgehen, beginnt der Tanz. Wobei auch hier die drei Protagonist*innen meistens für sich bleiben. Dabei hat man als Zuschauer*in das Gefühl, dass die Party noch läuft und sich die drei auf der Tanzfläche befinden. Allerdings findet vieles sehr verlangsamt, fast in Zeitlupe, statt.

Einlullendes Vogelgezwitscher und dröhnende Beats

Dass der Abend so intensiv wirkt, liegt sicherlich auch am Lichtdesign von Yves Godin sowie an der Komposition von Caterina Barbieri und dem Sounddesign von Adrien Michel. Ist anfangs vieles noch im Halbdunkel verschwunden, wird es im Lauf des Stückes immer sichtbarer. Doch, neben Theaterscheinwerfern kommen auch Laser zum Einsatz, die den Eindruck erwecken, dass sie das Geschehen auf der Bühne eingrenzen oder zerschneiden. Die Musik wirkt teilweise einlullend süßlich mit Vogelgezwitscher, bevor dann wieder dröhnende Beats an die Härte des Geschehenen erinnern.

Am Ende fühlt man sich erschlagen und weiß doch, dass es wichtig ist, auch dieses Thema im Theater zu behandeln. Vor allem wenn es auf dem Niveau von „Extra Life“ passiert. Die Einladung zum Theatertreffen in Berlin ist definitiv nachvollziehbar.

 

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